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Christian Pausch

Irrsinn, Island, Ingwer.

12. 5. 2014 - 15:02

Liebenswerter Grantscherm

Franka Potente erzählt in ihrem Debüt-Roman "Allmählich wird es Tag" die Geschichte eines übergroßen Mannes mittleren Alters, der gezwungen wird sein Leben zu überdenken.

Schon 2010 hat Franka Potente aufhorchen lassen, als sie ihren Kurzgeschichten-Band "Zehn. Stories" vorstellte. Bis dahin war sie den meisten nur als Schauspielerin bekannt, dabei hatte sie schon 2005 den Briefwechsel "Berlin - Los Angeles. Ein Jahr" zusammen mit Max Urlacher veröffentlicht. Nun legt sie ihren ersten Roman vor: "Allmählich wird es Tag".

Franke Potente

Piper Verlag

"Er begann, im Wohnzimmer aufzuräumen, sammelte die leeren Flaschen ein, fegte die Scherben zusammen. Hinter dem Sofakissen fand er sein Handy. Keine Anrufe. Die Scherben entsorgte er in den Mülleimer in der Küche."

Das Leben aufräumen

Tim Willkins ist über zwei Meter groß, Ende vierzig, wurde gerade von seiner Frau Liz verlassen und hat in der selben Woche auch noch seinen Job verloren. Deshalb beginnt er nicht nur das Wohnzimmer, sondern sein ganzes Leben aufzuräumen. Doch vorher gilt es verlorene Lebenszeit zurückzuholen.

Er fährt alleine campen, lässt sich absichtlich in Schlägereien mit Jugendlichen verwickeln, beginnt eine Affaire mit einer zwanzig Jahre jüngeren Frau und befreundet sich mit der Kellnerin eines Autobahn-Diners. Dennoch spürt man als Leser_in, dass den von Grund auf grantigen Protagonisten dieses Lotterleben nicht zu befriedigen scheint, auch wenn er dabei interessante neue Erfahrungen macht.

"Tim nahm einen tiefen Zug. Er hielt die Luft an, bis die Lunge brannte. Atmete aus. Weißer, dicker Rauch. Würzig. Aida lehnte sich entspannt zurück, beobachtete ihn. Er musste husten. Das letzte Mal war er während der Ausbildung high gewesen. Mit Larry Greenblatt. Sie hatten durchgefeiert und er war auf Larrys Couch eingeschlafen, als der Morgen graute. In dessen Fünfzig-Quadratmeter-Wohnzimmer mit Blick auf den Hollywood-Schriftzug."

hollywood

de.wikipedia.org

From L.A. to Tokyo

Dass Potente ihre Geschichte in und rund um Los Angeles spielen lässt, irritiert nur, wenn die Romanfiguren Wortwitze machen, von denen man weiß, dass sie auf Englisch so nicht funktionieren würden. Wie die letzten Überlebenden einer deutschsprachige Enklave erscheinen die Personen in "Allmählich wird es Tag" aber glücklicherweise trotzdem nicht.

Eigentlich passiert nicht viel an hervorstechender Handlung in der Story rund um den großgewachsenen Tim, aber die Beobachtungen, die er in seinem Umfeld und an sich selbst macht, sind so präzise und gut beschrieben, dass es trotzdem niemals langweilig wird.

franka potente

Piper Verlag

"Allmählich wird es Tag" von Franka Potente ist im Piper Verlag erschienen und seit heute im Handel.

"Als er das Kissen aufschüttelte, fand er ein zusammengeknäueltes T-Shirt. Es war fast unters Bett gerutscht, zwischen Wand und Matratze.
Liz hatte das T-Shirt zum Schlafen getragen. (…) Er bedeckte sein Gesicht mit dem weichen Stoff und schloss die Augen. Atmete die letzten Moleküle ihres Geruchs ein. Den pudrigen Geruch ihrer Nachtcreme. Ein bisschen Lavendel. Das Haaröl, das sie verwendete. Einen Hauch von Schweiß unter den kurzen Ärmeln. Duftpartikel.
Bald würde nichts mehr von ihr übrig sein. Der Geruch von Zuhause. Familie. So hatte es immer gerochen. Erst jetzt wurde ihm das klar."

Empfehlung

Franka Potente hat mit "Allmählich wird es Tag" ein authentisches Porträt eines grantigen und dennoch einfühlsamen Mannes gezeichnet, der einem trotz all seiner Macken und Wutausbrüche in Windeseile ans Herz wächst. Man will das Buch nicht mehr aus der Hand legen, weil die Geschichte eine ist, die uns allen passieren könnte, dazu muss man nicht in L.A. leben und auch keine zwei Meter groß sein.