Erstellt am: 9. 5. 2014 - 15:16 Uhr
Strand, Berge und Mototaxi: ein Triathlon durch Rio
Über mich:
Vor 14 Jahren habe ich meinen Zivildienst in Salvador de Bahia, im Nordosten Brasiliens geleistet. Seit dem lässt mich das Land, seine Leute, seine Kultur, Sprache und seine Landschaften nicht mehr los. Nach mehreren Brasilienurlauben bin ich jetzt seit Jänner 2014 wieder für länger hier: als Post-Doc am Energieplanungsprogramm der staatlichen Universität UFRJ in Rio de Janeiro.
Wenn man für eine Zeitlang nach Rio de Janeiro geht, muss man damit rechnen, viel Besuch zu bekommen. Für die halbwegs sportlichen Besucher haben wir uns als Einstieg in die Stadt einen eigenen Rio-Triathlon ausgedacht. An einem einzigen Tag kann man so einen Großteil jener Dinge erkunden, die Rio ausmachen: Strandleben, Körperkult, Verkehrschaos, Berge, Favelas, Militarisierung und soziale Ungleichheiten.
Disziplin 1: Den Strand entlangradeln
Nicht dass Rio eine besonders radfreundliche Stadt wäre. Auf normalen Straßen würden wir nicht mit dem Rad fahren. Eine Ausnahme bildet aber der Strand-Radweg vom Praia do Flamengo über Copacabana und Ipanema bis nach Leme. Unterwegs kann man Großfamilien beobachten, die den Samstagnachmittag nutzen, um zu baden und Sandburgen zu bauen, Rodas de Samba, kleine Gruppen von SambamusikerInnen, die in den Strandbars sitzen und bei vielen Bieren eine schier unendliche Anzahl an Sambas performen, gesanglich unterstützt vom Publikum – und überall sportliche Aktivität und viel, viel freiliegende Haut: Joggerinnen, Skateboarder und Radfahrerinnen matchen sich um den besten Platz am Radweg, Surfer tragen ihr Brett zum Bus, am Strand wird gekickt, Volleyball oder Rugbey gespielt und alle paar hundert Meter findet sich eine Fitnessstation, auf der sich muskelbepackte Männer stählen.
Rosemarie Santos De Souza / Johannes Schmidt
Disziplin 2: Mit dem Mototaxi durch die Favela
Am Ende des Radwegs und nach einer kurzen Wegstrecke auf einem schmalen Gehsteig die Steilküste entlang kommen wir zum Eingang der Favela Vidigal. Die ist inzwischen fast weltberühmt, selbst David Beckham hat sich angeblich ein Haus hier gekauft - um eine Million Reais, wie die brasilianische Klatschpresse zu wissen glaubt.
Vidigal war einer der ersten Favelas die „befriedet“ wurde, das heißt: in der versucht wurde, mit massiver Polizeipräsenz die Drogenhändler aus den Favelas zu vertreiben. Gut sichtbar posieren daher am Eingang mehrere Militärpolizisten mit ihren Schusswaffen. Heute befinden sich in Vidigal Hostels und Hotels und die Immobilienpreise steigen in schwindelerregende Höhen: schließlich hat man von Vidigal aus einen atemberaubenden Ausblick auf das Meer und den Strand von Ipanema. Der erste, der hier ein Hostel errichtet hat, war übrigens ein Österreicher.
Rosemarie Santos De Souza / Johannes Schmidt
Mit dem Mototaxi, also auf dem Rücksitz eines Motorrads, gelangen wir ans obere Ende der Favela, ein, zwei hundert Höhenmeter trennen uns noch vom Gipfel. Insgeheim fühlen sich alle MototaxifahrerInnen als Nachkommen von Ayrton Senna. Millimeter, so ist mein Gefühl, trennen unsere Beine von den vorbeifahrenden Klein-LKWs und Autos, in rasendem Tempo gewinnen wir Höhe die engen Straßen der Favela hinauf. Kleine auf der Straße aufgeschüttete Betonhügel, die die Fahrzeuge dazu zwingen sollen, das Tempo zu verringeren, nimmt meine Fahrerin mit viel Geschick - und in hoher Geschwindigkeit. Oben angekommen schickt sie uns eine kleine Gartenmauer entlang, bis wir zum Beginn des Wanderwegs kommen.
Disziplin 3: Bergwandern auf die Dois Irmãos
Innerhalb von kurzer Zeit sind wir weg aus der Stadt, umgeben von Urwald, von wilder Natur, kleinen Affen – und immer wieder können wir durch Lücken in den Bäumen aufs Meer hinaussehen. Man kann irgendwie nachvollziehen, warum sich Beckham hier ein Haus gekauft hat.
Rosemarie Santos De Souza / Johannes Schmidt
"Dois Irmãos" (zwei Brüder) nennen sich die beiden Gipfel dieses Berges. Der Lärm der Stadt wird überdeckt von Vogelgeschrei und dem lauten Zirpen von Grillen. Nach ein paar Minuten kommt dann unter uns die Rocinha, die größte Favelas Rios, ins Blickfeld. Etwas weiter in der Ferne sehen wir einen Golfplatz. Direkt neben der Rocinha haben sich die Reichen und Schönen ihre Villen mit Swimming Pools gebaut: die einen bewacht durch die Militärpolizei, die anderen umgeben von hohen, mit Stacheldraht geschützten, Mauern.
Am Gipfel genießen wir den grandiosen Ausblick über Teile des südlichen Rios, bis zum Zuckerhut und zum Christus kann man sehen. Auf der anderen Seite ragt der über 800 Meter hohe Felsen Pedra da Gávea in die Höhe. Es ist eine einzigartige Mischung aus wilder Natur, aus Hügeln und Bergen und riesigen, kilometerlangen Sandstränden, in deren Mitte sich die Stadt Rio hineinschmiegt.
Als Ausklang: Das Belohnungsbier
Am Weg hinunter, zu Fuß durch Vidigal, gehen wir auf ein Bier in ein unscheinbares Privathaus und tratschen mit der Besitzerin des kleinen Geschäfts. Viel hat sich verändert, seit die Befriedungen durchgesetzt wurden, sagt sie. Immer öfter kommen Leute herauf, die Häuser und Grundstücke kaufen wollen. Über dem Hostel des Österreichers wurde hier ein Luxushotel hingebaut, mit Blick auf Ipanema. Manche der Einheimischen lassen sich breitschlagen, geben den Blick aufs Meer für das gebotene Geld auf. Langsam, so meint sie, ändere sich Vidigal. Auch mit der Ankunft der Touristen. Und natürlich sei das auch gut, schließlich habe sie jetzt mehr Geschäft. Aber irgendwie, die Gemeinschaft hier, die möchte sie nicht verlieren. Niemand hier nennt Vidigal "Favela" – die Bewohner bevorzugen den weniger diskriminierenden Begriff "Comunidade", was soviel heißt wie: Gemeinschaft.
Rosemarie Santos De Souza / Johannes Schmidt
Viel weiter unten, fast schon am Fuß des Hügels gehen wir dann noch auf ein Bier zu Helena in die Bar Brexó Quebra Galho. Würde man nur die Fotos dieser Bar sehen, man könnte annehmen, sie befindet sich irgendwo in Berlin oder Barcelona: Vinylschallplatten als Wanddekoration, Zebrahocker, 70er-Lampen, Helena hat sich ihren Lebenstraum erfüllt. Mit über 50 hat sie von einem Tag auf den anderen begonnen, ihr Wohnzimmer zu einem Lokal umzugestalten – mit einer guten Hand fürs Design. Die Nachbarn hätten darüber gelacht, aber sie hat an ihren Traum geglaubt.
Sie schnorrt uns noch eine Zigarette, bringt uns noch ein Bier und auch für sie sind die Befriedungen und die damit einhergehende Gentrifizierung der Favela Thema. Aber an eine langfristige Lösung glaubt sie nicht: das seien alles nur reine Verschönerungsmaßnahmen vor den Großevents.
Am Heimweg nehmen wir den Bus, warten ewig darauf und stecken dann im Stau fest. Auch das ist Alltag in Rio: mühsame, überfüllte Öffis. Und Staus. Aber weil dann auf einmal alle im Bus zu diskutieren beginnen, wo denn nun dieses Hotel sei, bei dem eine ältere Dame aussteigen will, und unter lautem Gelächter der Busfahrer dazu angehalten wird, doch ausnahmsweise einmal außerhalb der Haltestelle stehen zu bleiben und er sich schließlich breitschlagen lässt, deswegen lieben wir Rio. Weil sie irgendwie eine Leichtigkeit hat, diese Stadt.