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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

7. 5. 2014 - 13:37

Döner statt Krawalle

Wie sich der 1. Mai im Laufe der Zeit verändert hat.

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov, jeden Mittwoch in FM4 Connected (15-19 h) und als Podcast

Ich habe keine Erinnerungen an die 1. Mai-Manifestationen vor dem Fall des Kommunismus. Ich habe viele Geschichten gehört, wie die Menschen gezwungen wurden, zur Manifestation zu gehen. Die Bürger der klassenlosen Gesellschaft haben vor den Augen ihrer klassenlosen Anführer ihre Solidarität mit den ausgebeuteten Proletariern der kapitalistischen Länder zeigen sollen. Statt ihre Solidarität zu zeigen, demonstrierten sie ihre Loyalität für das System.

1. Mai-Demo in Berlin

Todor Ovtcharov

Meine ersten Erinnerungen an eine 1. Mai-Demo stammen aus einem kleinen Balkandorf, wo meine Familie ein Haus hat. Damals war weder von der Solidarität noch von der Loyalität etwas übrig geblieben. Den Kommunismus gab es nicht mehr und alle fühlten sich als freie Mitglieder der kapitalistischen Welt. Auf dem Hauptplatz des Dorfes, vor dem einzigen halbleeren Geschäft, spielte eine Blaskappelle. Es gab auch eine Sängerin. "Fahr schnell und wild auf Rot, mach mit mir was Verrücktes dort", sang sie. Tschalga. Das Fest hatte sich wieder verändert - es hatte überhaupt keinen Inhalt mehr, übrig geblieben war nur der Drang zu essen und zu trinken. Solidarität brauchte niemand mehr.

Als ich Ende der 90-er Jahre in Berlin lebte, hörte ich das erste Mal von den großen 1. Mai-Demos in Kreuzberg. Am Spielplatz, wo ich gerade Basketball spielte, kam ein junger Mann vorbei und zog sich rasch um. In Sekunden verwandelte er sich von einem anständigen Wessi in einen Anarcho-Kommunisten. Ich lief ihm nach. In Kreuzberg herrschte höchste Alarmbereitschaft. Auf allen Ecken standen stark bewaffnete Polizisten. Sie trugen Schilder um sich gegen Steinangriffe zu verteidigen. Das Wetter war schön und nichts deutete auf einen Kriegszustand. Eine schöne, junge Polizistin hatte ihren Helm abgenommen und las etwas. Ich schaute hinter ihren Rücken um zu sehen, was es war. Sie las "Cyrano de Bergerac" - ein gereimtes Theaterstück. Plötzlich kam die Demo. Die Polizisten machten sich bereit. Ich und meine Freunde versteckten uns in einem türkischen Gemüseladen. Steine flogen auf die Polizisten. Sie zogen ihre Schlagstöcke und die Demonstranten flohen so schnell wie möglich. Das Ganze ähnelte einem Karneval.

Todor auf der 1. Mai-Demo in Berlin

Todor Ovtcharov

Letzte Woche war ich wieder bei einer 1. Mai-Demo in Berlin-Kreuzberg. Von den Krawallen war wenig übriggeblieben. Die Anarcho-Kommunisten hatten sich beruhigt und sich in saubere Hipster verwandelt. In Kreuzberg gab es nur eine riesige Party, die einen riesigen Berg Müll hinterherließ. Ich habe niemand gesehen, der demonstrierte. Verschiedene Bands spielten überall. Die Bewohner Berlins tanzten wie die Bewohner des Balkandorfes in meiner Kindheit. Zur gleichen Tschalga oder Balkanmusik. Ich und meine liebe M. tanzten mit.

Einheimische Türken haben unzählige Stände auf der Straße eröffnet, wo sie Sandwiches mit Köfte, Börek und Kebab verkauften und machten von der deutschen Arbeiterklasse den besten Umsatz des Jahres. Fast jeder lief mit einem Kebab in der Hand herum. Die Solidarität war unwichtig, die Karnevalschlachten auch. Der Döner ist die neue Flagge der Arbeiterklasse.

Band bei der 1. Mai Demo in Berlin

Todor Ovtcharov