Erstellt am: 3. 5. 2014 - 14:23 Uhr
Leben im Korridor
04:28
Solche Kleinigkeiten bleiben einem im Gedächtnis.
Die Ziffern leuchten im Halbdunkel meines Zimmers in der Yucca Street, in der ich mich bei Eleanor eingemietet habe. Die nacht liegt noch im Stillen, als ich die Augen auf meinen Digitalwecker richte.
Monday, 1-17-94, 04:28
(aus "Korridorwelt" von Hans Platzgumer)
Musiker und Autor Hans Platzgumer auf FM4:
- "Expedition", eine Rock'n'Roll-Autobiographie
- Das FM4 Doppelzimmer mit Hans Platzgumer
- Der Roman "Weiß"
- Hans Platzgumers "Convertible"
Plötzlich bebt die Erde. Es ist der Tag, an dem Los Angeles vom Northride Earthquake, einem der bis dato schlimmsten Erdbeben dort, heimgesucht wird. Während alle in Panik auf die Straße rennen, muss Julian Ogert einige Male durch seine Vermieterin Eleanor geweckt werden, bis sie den nackten Jungen auf die Strasse mitschleift, um ihn in Sicherheit zu bringen. Die Risse, die sich in den Straßen von Los Angeles abzeichnen, spiegeln jene Wunden in Julian wieder, vor denen er auf der Flucht ist. Doch selbst die Reise, die er nur mit Rucksack und Gitarre bis zum westlichsten Punkt der Erde zurücklegt, hält den jungen Musiker in seiner Korridorwelt gefangen.
Die Druckwellen der Veränderung
Es ist ein starker Sog, den Hans Platzgumer in seinem neuesten Roman von der ersten Seite an erzeugt. Kein Wort ist zuviel, knapp und trotzdem atmosphärisch extrem dicht erzählt er von seinem verzweifelten Helden Julian Ogert, der in Linz ein vereinsamtes, tristes Leben führt. Auch wenn sein Vater erfolgreicher Anwalt ist und er mit seinen Eltern in einer schönen, zentralen Altbauwohnung lebt, fühlt sich Julian wie in einer Warteschleife, die seine Gefühle und Emotionen taub werden lassen. Keine Kommunikation, sondern Unverständnis und daraus resultierende Vereinsamung treiben den jungen Schüler zu obskuren Freundschaften und trübsinnigem Sinnieren, das den inneren Druck, aus allem auszubrechen, ständig erhöht.
Nautilus Verlag
Doch erst ein schockierendes, tragisches Ereignis und emotionales Erdbeben reißen den Teenager aus seiner Lebenslähmung.
Wäre diese Auflösung meiner Linzer Jugend mir nicht aufgezwungen worden, hätte ich mich in ihrer Eintönigkeit verloren. Jemand musste das Zeichen für mich setzen. Mein Vater, meine Mutter. Allzu deutlich führten sie mir vor Augen, wohin mein Leben steuerte. Sie zeigten mir den Strick und drängten mich aus der Wohnung, warfen mich aus der Belanglosigkeit der vorüberziehenden Jahre. Das eine taten sie für mich. Und überließen mich meinem Schicksal.
(aus "Korridorwelt" von Hans Platzgumer)
Über Paris und New York landet Julian Ogert schließlich im berüchtigten Yucca Corridor, dem gefährlichsten Viertel von Los Angeles. Dort existiert er illegal wie ein Flüchtling und wandelt oftmals wie ein Geist aus dem alten Europa durch die von Drogenbanden kontrollierten Straßen, um sich an der Promenade von Santa Monica mit der Gitarre seine Überlebensmünzen zu erspielen.
Doch selbst die Marihuana-geschwängerten Nachmittage in der Sonne können die Geister der Vergangenheit nicht verjagen und die zarten Annäherungen an eine mexikanische Emigrantin gipfeln in der bitteren Erkenntnis, dass Julian vor seiner emotionalen Taubheit nicht davonlaufen kann. So entschließt er sich zu einer letzten, dramatischen Flucht an einen Ort, von dem Julian sich erhofft, dass er ihn zu einem neuen Leben zwingen wird.
- Mehr Buchempfehlungen auf FM4
Schicksalserfahrungen und Lebensphilosophie
"Korridorwelt" ist Hans Platzgumers bestes, emotionalstes Buch. Es ist weit mehr als nur eine Coming-Of-Age-Geschichte eines österreichischen Teens. Der Roman verhandelt darüber hinaus die grundsätzliche Frage, wann wir in unserem Leben wirklich frei sind, was diese Freiheit bedeutet und welchen Preis sie hat.
©Severin Koller
Sehr präzise zerlegt Hans Platzgumer seine Erzählstränge in unterschiedliche Zeitperspektiven, setzt sie clever Stück für Stück wieder zusammen und erhöht so die Spannung von Seite zu Seite.
Die Geschichten der Charaktere von "Korridorwelt" speisen sich einerseits aus Platzgumers persönlichen Jugenderfahrungen, wobei sie nicht wie in seinem Buch "Expedition" autobiographisch übernommen werden, sondern abstrakter in Form von Lebensphilosophien einfließen. Andererseits schöpft der österreichische Schriftsteller und Musiker aus einem unglaublichen Fundus an wahrhaftigen, haarsträubend unfassbaren Geschichten, die ihm von Verwandten oder Freunden näher gebracht worden sind.
Hans Platzgumers Lesereise mit Musik:
- 09. Mai, Optimal Plattenladen / München
- 15 Mai, King George / Köln
- 27. Mai, Neuköllner Oper / Berlin
- 04. Juni, Röhrenwerk / Widnau (CH)
- 27. Juni, Spielboden / Dornbirn
- 22. September, Fluc / Wien
- 01. Oktober, Freies Theater / Innsbruck
"Korridorwelt" entführt uns in eine apokalyptische Welt. In ein verstaubtes, düsteres Europa und ein verrücktes, chaotisches Amerika der 1990er Jahre, wobei die Grundstimmungen sich von der Gegenwart nicht wesentlich unterscheiden. Vielleicht macht auch diese pointierte und scharfe Abrechnung mit unser auf Konsumzwang gegründeten Gesellschaft und die daraus resultierenden Folgen für Platzgumers Figuren diesen Roman zu brisanter Gegenwartsliteratur.
Es gehört viel Energie und Disziplin dazu, so eine vielschichtige Erzählung komprimiert auf den Punkt zu bringen. Jeder einzelne Satz erweist sich als bedeutend, ohne seine Leichtigkeit einzubüßen. Jedem Wort scheint Hans Platzgumer seine essenzielle Bedeutung herausdestilliert zu haben, um sie mit kompositorischem Geschick zu einem stimmungsvollen und sehr intensiven Gesamtkunstwerk zusammenzufügen. Die berührende Geschichte von Julian Ogert lässt einen auf alle Fälle nicht mehr so schnell los.
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