Erstellt am: 3. 6. 2014 - 12:00 Uhr
Völlig utopisch
Einen weltweiten Trend zu Utopien haben die JournalistInnen vom Korrespondenten-Netzwerk Weltreporter in den letzten Jahren festgestellt, erzählt Journalist und Herausgeber Marc Engelhardt in einem Interview. Mit Utopien sind aber weniger große Entwürfe und Visionen gemeint, konkretisiert der Journalist, sondern der Wunsch im eigenen Umfeld etwas zu verändern. Wie das gelingt, das zeigen die Porträts im Reportageband. Der Titel "Völlig utopisch" nimmt gleich Bezug auf Kritik und Skepis, die utopischen Konzepten mitunter entgegen wehen. Ein Kokettieren, denn der Untertitel "17 Beispiele einer besseren Welt" macht klar, in diesem Buch geht es um Menschen, die an ihre Ideen glauben und sie umsetzen.
Henry David Thoreau (1817 - 1862) - sein Name fällt aktuell immer wieder mal im Zusammenhang mit Steuerstreik. Den Text "Resistance to Civil Government" gibt´s etwa hier im Original, die Übersetzung, "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat", zum Beispiel hier.
Ein Plädoyer für Veränderung, etwa im Sinn von emanzipatorischen Lebensentwürfen, ist die Einleitung von Ilija Trojanow. Er verweist auch auf die wechselvolle Geschichte des Utopiebegriffs als politische Kategorie. Und Trojanow legt die Fährte zum amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau und seinem Essay "Resistance to Civil Government". Darin diskutiert Thoreau den individuellen Protest als Staatsbürger. Thoreau selbst verweigert in den Vereinigten Staaten der 1840er die Steuerzahlung, denn weder will er die Sklaverei noch den Mexiko-Krieg mitfinanzieren und unterstützen. Ein Zitat in diesem Text passt ganz gut zu dem, was in "Völlig utopisch" folgt: "A man has not everything to do, but something; and because he cannot do everything, it is not necessary that he should do something wrong."
Nicht zufällig ist das Christiania-Rad am Titelbild. Eine Reportage führt nach Kopenhagen und schildert, wie sich der Freistaat über die Jahre verändert und entwickelt hat. Utopie-History sozusagen.
Zum Einstieg: Aussteiger
Neuseelands abgeschiedenste Familie lebt im Südosten des Landes, an der Flussmündung von Gorge River. Ihr Haus und das Land, das sie bewirtschaften, liegt in einer urzeitlichen Landschaft, wie Journalistin Anke Richter schreibt, die die Familie nach einer beschwerlichen Reise erreicht. Die erste Reportage in "Völlig utopisch" porträtiert ein Aussteigerpaar, das seit Jahrzehnten gemeinsam im Nirgendwo lebt.
Entbehrungen waren normal für das Paar. Wann immer die Beansprouts etwas Bestimmtes wollen, gab es nur eine Lösung "Vielleicht finden wir es am Strand". Mal wurde ein Schlafsack angespült, mal Baumaterial fürs Haus - die Hälfte kam so zusammen.
Auch die zwei Kinder der beiden wachsen hier auf, drei Tage Fußweg vom nächsten Supermarkt entfernt: "Jedesmal wenn wir mit den Kindern in die Stadt kamen, wurden sie sofort krank. Es strengte sie alles an. Zu Hause war es besser." Robert bläst ins gleiche Horn: Nicht das Leben am Gorge River sei hart, sondern die Abstecher in die Zivilisation.
Die beiden Aussteiger als Einstiegsgeschichte ist ein guter Anfang und doch sind die darauffolgenden Geschichten im Reportageband noch spannender, interessanter und aufschlussreicher. Die Reportagen zeigen Menschen, die mit Ideen und Visionen versuchen, gemeinsam ihr ganz konkretes Umfeld ein bisschen "besser" zu machen. Die jeweilige Definition von "besser" entsteht als Gegenüber zum sie umgebenden gesellschaftspolitischen Status Quo - und so bedeutet "Völlig utopisch" in China etwas komplett anderes als in Äthiopien, in den USA oder bei Kosaken im Uralgebirge.
Grundeinkommen in Namibia
Über ein Grundeinkommen wird hierzulande immer wieder mal diskutiert, in Otjivera, einem kleinen Dorf in Namibia, ist es seit einigen Jahren Realität. Weltreporter Marc Engelhart beschreibt, was sich in dem Dorf verändert hat, seit die BewohnerInnen eine bedingungslose Transferleistung erhalten - 100 Namibia-Dollar pro Monat, umgerechnet knapp 7 Euro: Die Mangelernährung unter den Kindern hatte sich nach sechs Monaten halbiert. Schule war für Familien wieder leistbar, die Zahl der SchulabbrecherInnen ist signifikant gesunken. Die gut ausgebildete Jugend, so die Hoffnung, wird es leichter haben, Arbeit zu finden oder eigene Unternehmen zu gründen. Nach Bildung steht Gesundheit ganz oben auf der Prioritätenliste. Wer krank ist, geht zum Arzt, weil er sich die vier Nam-Dollar pro Besuch leisten kann. Das für die Nachhaltigkeit des Projekts vielleicht wichtigste Ergebnis: Mit ihrer Arbeit ist es den Bewohnern gelungen, ein Gesamteinkommen zu erzielen, das über der Summe des ausgezahlten Grundeinkommens liegt.
Wie demenzkranken Menschen ein würdevolles Altern in einer Umgebung ermöglicht wird, die einer Inszenierung gleichkommt, zeigt die Reportage eines niederländischen Pflegeprojekts.
Das Porträt der Arbeiter einer Fabrik im argentinischen Neuquén erinnert an die Geschichte der serbischen Pharmafabrik Jugormedija, über die auch die Doku Kick Out Your Boss erzählt. Als die Fliesenfabrik im bankrotten Argentinien geschlossen werden soll, geht die Belegschaft nicht nach Hause, sondern besetzt die Anlage und führt sie inzwischen als Kollektiv weiter.
Begleitend zum Buch ist der Utopiesalon online - dort finden sich einige der Reportagen aus dem Buch, darüber hinaus will der Salon Utopien diskutieren und Ideen sammlen. Auch auf Twitter, #voelligutopisch.
Der in China favorisierten Leistungsgesellschaft setzt eine Waldorff-Schule eine alternative Bildungseinrichtung entgegen. Obwohl sich die Existenz der Schule herumspricht, immer mehr Eltern ihre Kinder lieber dort im Unterricht wissen, als in einer staatlichen Institution, ist die Waldorff-Schule sowas wie ein Underground-Projekt. Nicht anerkannt, aber geduldet, die Initiatoren der Schule wollen den genauen Standort jedenfalls nicht in einer deutschen Publikation veröffentlicht wissen.
Utopia existiert und kann real werden, davon erzählen die 17 Geschichten aus allen Kontinenten in diesem Reportageband. Schön auch, was Shuki Levinger, Co-Gründer eines integrativen Kibuzz für Menschen mit besonderen Bedürfnissen in Israel meint: Utopia, das ist kein Ort, das ist vielmehr ein dynamischer Prozess. Das ist, wenn sich immer neue Möglichkeiten auffächern.