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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

24. 4. 2014 - 16:29

Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?

Rollercoaster-Ride durch die Identitäten: die wunderbare Sci-Fi-Show "Orphan Black". Ein großer Spaß mit Unterbau.

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Die Doppel- oder gar Mehrfachrolle kann in Film und Fernsehen für Darsteller wie Publikum zu unangenehmen Situationen führen. Das wissen wir nicht erst seit Eddie Murphy im Fatsuit und jenem Moment, der der Welt auch noch eine weibliche Ausgabe von Adam Sandler geschenkt hat. Das gleich mehrfache Vorhandensein eines "Ichs" liefert zwangsweise den Anlass mit, die Themen Identitätsfindung, Entscheidungsfreiheit und Individualismus zu reflektieren.

Vergangenes Wochenende ist einer der Überraschungserfolge des letzten Jahres in seine zweite Staffel gegangen: Die für die Sender BBC America und Space co-produzierte kanadische Show "Orphan Black", die all diese Probleme so mühelos meistert, dass es nur eine Freude ist. Und noch wesentlich mehr bewerkstelligt und dabei so ziemlich alles richtig macht. An der Oberfläche und in erster Linie ist "Orphan Black" eine Science-Fiction-Serie, der jedoch zunehmend das Kunststück gelingt, Elemente von Screwball Comedy, Verwechslungskomödie und Buddy Comedy in dieses den Rahmen gebende Format und in ein rundherum finsteres und wenig zukunftsfrohes Szenario einzupassen.

Orphan Black

BBC America

Eine Show, die zu Recht von Kritik und Publikum umschwärmt wird; eine Show, die Action und Mystery so halsbrecherisch und mit leichter Hand inszeniert, ständig steht man hier an der Kante zum prickelnden Sprung hinein ins Ungewisse, und muss sich fragen, wieso das nicht jeder Serie gelingen kann. Im Hintergrund walkt "Orphan Black" leise die ganz großen philosophischen Fragen. Der Anker der Show ist die kanadische Schauspielerin Tatiana Maslany, die für ihre Darstellung(en) in "Orphan Black" mit etlichen Preisen und Nominierungen bedacht worden ist. Oft lässt sie den Akt des Schauspielerns komplett unsichtbar werden, oft stellt sie ihn überdeutlich heraus, als Performance und Inszenierung. Auch davon handelt "Orphan Black" ganz ausdrücklich.

"Orphan Black" ist eine Serie über Klone. Man erfährt das schon in der ersten Episode der ersten Staffel. Oder kann es sich anhand der sich dort schon in den ersten vierzig Minuten der Show rasant überschlagenden Komplikationen immerhin zusammenreimen. Schon die erste Szene macht klar, dass hier in Folge keine Zeit vergeudet werden wird: Sarah Manning, die Figur, die lange Zeit im Zentrum von "Orphan Black" stehen wird, schlendert nachts über einen Bahnsteig und muss beobachten, wie sich eine junge Frau, die ihr exaktes Ebenbild zu sein scheint, vor den heranfahrenden Zug wirft. Ihre Handtasche hat die unbekannte Doppelgängerin auf dem Bahnsteig zurückgelassen.

Darin findet Sarah Manning unter anderem einen Ausweis, aus dem sie sich selbst entgegenblickt - bloß unter fremdem Namen. Und mit netterer Frisur, wie Sarahs Ziehbruder, bester Freund und treuer Komplize Felix beim Treffen im Pub anmerken wird. Ebenso mit besserer Wohnadresse als die der schnell als ruppiges, kleinkriminelles Punk-Girl mit freilich doch goldenem Herzen etablierten Sarah Manning. Sarah Manning trägt bevorzugt Schwarz und schwere Stiefel, Hoodie ins Gesicht gezogen. Sie spricht derben, kaum zu verortenden englischen Akzent und sagt "Oi!" wie jemand, der über Punk nur aus Büchern gelesen haben kann.

Weil die Kohle wieder mal knapp ist und Sarah grundsätzlich nicht so gut mit Gesetz und Staat klarkommt, wird der Vorfall zunächst einmal nicht der Polizei gemeldet. Die wesentlich bessere Idee scheint in so einem Falle doch ganz klar zu sein: Den eigenen Tod vortäuschen, die hässliche und befleckte Vergangenheit hinter sich lassen und in die Identität der Verstorbenen schlüpfen. In ihr schniekes Häuschen einziehen und das gut bestückte Bankkonto leerräumen.

Wie lange kann das denn gut gehen? Nicht eine ganze Episode lang, andere Shows hätten aus dieser Prämisse eine komplette, sicherlich auch nicht uninteressante Season gestrickt. Es wird kompliziert: In jenen Momenten, in denen wir die kanadische Schauspielerin Tatiana Maslany dabei beobachten dürfen, wie sie eine rotzige englische Punk-Göre darstellt, die versucht, sich per Studium alter Homevideos die Macken und den Akzent (jetzt wieder: kanadisch) der Verblichenen - wie sich herausstellt, eine, of all things, Polizistin - einzuverleiben, befinden wir uns lediglich auf der ersten Windung einer sich wild nach oben schraubenden Spirale des Figurenspiels.

Orphan Black

BBC America

Es wird in "Orphan Black" nicht bei einer einzigen Doppelgängerin von Sarah Manning bleiben. Oder vielmehr: Ist sie selbst die Doppelgängerin? Hatte sie eine Zwillingschwester, von der sie nichts wusste? Im Familienstammbaum ist es schwer Nachforschungen anzustellen, da Sarah, so lässt man das Publikum bislang immerhin wissen, Waise und bei einer Ziehmutter aufgewachsen ist. Wir treffen auf eine durchgeknallte ukrainische Killerin, eine brav-biedere Soccer Mom aus den langweiligen Suburbs einer namenlosen kanadischen Großstadt oder eine hochbegabte US-amerikanische Wissenschaftlerin mit Dreadlocks und Öko-Faible. Und einige mehr. Allesamt dargestellt vom Tatiana Maslany. Mit allen Quirks und Manierismen.

Was immer wieder zu absurden Formen des Overactings führt, das sich selbst gewiss ist. Die Trennlinien hin zum Parodistischen werden aufgezeigt, aber nur selten überschritten. Tatiana Maslany spielt die durchschnittlich öde Hausfrau Alison, die für ein Trickmanöver wiederum Sarah Manning verkörpern soll. Und sich so natürlich Sarahs Fake-Mischmasch-Cockney aneignen muss. Die wohlerzogene Alison fühlt sich durch ihre Erfahrungen am kleinen Vorstadt-Theater bestens dazu befähigt - was nicht ganz der Realität entspricht. Sprachcoach Felix angesichts Alisons ungelenker Versuche, einen räudigen englischen Straßenslang zu imitieren: "Holy shit, we need to pull a full-reverse Pygmalion here."

Orphan Black

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Die einzelnen Mitglieder des so genannten "Clone Clubs" werden zunächst also als klar zu identifizierende Stock Characters eingeführt, entwickeln im Laufe der Show aber bemerkenswerte Eigendynamik und durchlaufen jeweils eigene Handlungsbögen - die sich natürlich alle kreuzen. Währenddessen - auch so ein wunderbarer, recht beiläufig die traurigen Erwartungshaltungen aushebelnder Griff - bleiben mit Ausnahme von Felix alle männlichen Figuren hohle Charaktere, dumpfe Erfüllungsgehilfen, Pappkameraden, die den Frauen schmückend ein bisschen zu Seite stehen dürfen.

Bei aller Komödiantik, die die Figurenverwirrung mit sich bringt, ist "Orphan Black" gleichzeitig eben doch Thriller. Die langsam sich im Kopf einschleichende Vermutung, dass man selbst womöglich nur ein im Labor zusammengedoktertes Experiment sein könnte. Was mag der Zweck sein? Eine abenteuerliche Schnitzeljagd zwischen finsteren Konzernen, religiösen Fanatikern, Polizei und Killern, die sich wie Cowboys auf Großstadtbesuch kleiden.

Nurture vs. Nature. Wissenschaft gegen Gott. Verschwitzt inszenierte Nachtclubszenen, Strobo, Drogenrausch und stumpfe Ravemusik inklusive. Eine junge Frau, die sich mit einem Feuerlöscher durch die Wand einen Fluchtweg aus einer abgefuckten Toilette freihämmert. Eine Kanadierin, die eine Engländerin spielt, die eine Deutsche in schickem, Marlene Dietrich mit-telegrafierendem Grande-Dame-Look spielt, die, mit einer Beschwerde an der Hotelrezeption bezüglich ihres komplett getrashten Hotelzimmers konfrontiert, die Hand zum Teufelsgruß formt und mit schwerem deutsch-deutschen Zungenschlag die Worte spricht: "Rrrock And Roll."