Erstellt am: 20. 4. 2014 - 16:54 Uhr
Kapitän, wer hat bloß dein Schiff gesehen?
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- Auch der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar macht sich in der Presse am Sonntag zum jeweils selben Song seine Gedanken.
Die Unwirtlichkeit der Welt, die Mulmigkeit im Magen in Musik übersetzen, die nichts weniger als perfekt ist. Teenage Angst und die gefühlte Verzweiflung junger Erwachsener, mehrfach durch den Filter der Abstraktion geschickt, auf ein Album bannen, das ohne Makel ist. Manchmal kann es glücken: Gerade ist das ursprünglich 1991 erschienene Album "Spiderland" der Band Slint remastered, auf schickem Vinyl plus CDs, mit Bonustracks, Demos, Outtakes, einer DVD und einem schönen Büchlein neu veröffentlicht worden. Ein Klassiker, der viel zu wenigen Menschen bekannt ist. Ein kalter Monolith, ein Leuchtturm im Eismeer, dem niemand mehr etwas anhaben kann.
Slint - das waren (unregelmäßig findet die Band für ein paar Reunion-Konzerte immer wieder zusammen) vier junge Männer aus Louisville, Kentucky, deren Erdung in Punk, Hardcore und Post-Hardcore Startrampe für neue, aufregende Dinge wurde. Ihr zweites und bislang letztes Album "Spiderland" ist eine der Urmütter von Musiken, die bald schon "Post-Rock" und "Slowcore" genannt werden sollten. Mit den Mitteln von Rock wurde hier Musik anders zusammengesetzt, die da und dort schon auch noch "rockte", aber eben unerhört und anders tönte, als man das bis dahin von "Rock" so gekannt hatte.
Slint
Harsche Dynamikwechsel, lange, lange, lange ist es leise, dann Krach. Flüstern, Ächzen, weite, leere Räume, dann jault doch wieder so etwas wie ein Gitarrensolo auf, das im Gesamtzusammenhang der Platte fast schon absurd deplatziert ist und so als Kommentar dazu verstanden werden kann, wie "Rock" normalerweise eben erwartbar sonst so klingt. Klar, so etwas wie "Refrains" gibt es hier nicht. Texte über unheimliche Besuche beim Wahrsager, Vampirwesen as imagined by Friedrich Wilhelm Murnau und die Traurigkeit der Barfly. Entfremdung, Beklemmung, Pein speisen den Motor.
Der beste Song auf "Spiderland", DER Slint-Song, ist das letzte Stück: "Good Morning, Captain". Der Legende nach soll es maßgeblich von einer der bedeutendsten Balladen der englischen Romantik beeinflusst worden sein, nämlich "The Rime of the Ancient Mariner" von Samuel Taylor Coleridge. Immerhin das zentrale Motiv ist da wie dort ein sehr ähnliches.
In beiden Fällen muss ein Kapitän, der auf See Mannschaft und Schiff verloren hat, als einziger Überlebender und wohl auch an der Katastrophe Schuldiger zerknirscht, verflucht und dem Wahnsinn nahe für ewige Zeiten auf Erden wandeln. Bei Coleridge erfahren wir, dass es zum Unglück kommt, da der Kapitän in einem Akt triumphaler Selbstherrlichkeit einen Albatros erlegt, der sein Schiff zuvor aus schwierigen, gefährlichen Gebieten geleitet hat. Ein Umstand, der den Albatros als Bild für ein Menetekel oder eine schwere Schuld, die man quasi um den Hals gebunden mit sich führen muss, in der englischen Sprache etabliert hat.
Touch & Go
In Slints "Good Morning, Captain" gibt es keinen Albatros mehr. Hier ist alles schon zu spät. Die Handlung setzt in diesem Song erst an, als sich der Kapitän bereits einsam und alleine, orientierungslos und - wie er meint - fern der Heimat an unbekanntes Land gespült wiederfindet. Zitternd, blutend gelangt er an ein Haus. Dort trifft er einzig auf einen verschreckten Knaben.
Der Kapitän fleht um Hilfe: "I'm trying to find my way home" wispert er. Der Junge erblasst: "He recognized the Sound". Die Deutungsmöglichkeiten bleiben offen. Ein Mann, der die See der Familie vorgezogen hat, kehrt nach Jahren unfreiwillig nach Hause zurück. Sein eigener Sohn erkennt ihn zunächst nicht wieder. "I miss you" schreit der Kapitän gegen Ende, im bekanntesten Teil des Stücks, und murmelt "I’ll make it up to you". Hier spiegelt sich in der Figur des Knabens ebenso der Wunsch des Kapitäns nach Rückkehr in die eigene Kindheit, zurück in die Unschuld wider. Die Welt lag da noch voller Möglichkeiten vor ihm da. Jetzt ist alles verwirkt.
Ein erschütternder Song, fehlerlos, voller Poesie, gespickt mit Elementen der Phantastik und mit bitterer Wahrheit. Leidenschaft und Leid, Selbstaufgabe, Hoffnung und Energie durch Schmerz.