Erstellt am: 23. 4. 2014 - 18:11 Uhr
Left Coastin': Zu Besuch bei Amoeba Music in L.A.
FM4 Left Coastin'
Die dreiteilige Radioserie über die Amerikanische West Coast auf FM4 moderiert und präsentiert von Alex Augustin.
7 Tage zu hören:
Die Sendung vom 24.4.: Zu Besuch bei Amoeba Music in L.A. - ab 20:20.
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Zu Besuch bei
Amoeba Music, im Museum of Death, Trishes und Phekt plaudern mit Kendrick Lamar und Christine Scheucher macht einen Abstecher in die exzentrische Kunstwelt.
Amoeba Music ein "Plattengeschäft" zu nennen ist ungefähr so, als würde man die Sixtinische Kapelle als Dorfkirche bezeichnen. Das hier ist der Rolls-Royce der Plattenläden, eine Kathedrale, in der jeden Tag der gesammelte Chor des bisherigen menschlichen Musikschaffens auf dieser Erde ertönt. Ich kenne Menschen, die hatten im Ladeninneren Marienerscheinungen. Was, du warst noch nicht bei Amoeba? Mon Dieu! Ab heute auf deiner "Places-To-Visit-Before-I-Die-List". Ein völlig abgefahrenes Paralleluniversum ist das, in der die Musikwelt noch pumperlgsund ist.
Amoeba Music
Auch DJ Phekt weiß mehr über die Plattenläden in der Bay Area.
Anfang der 1990er waren die goldenen Tage der Schallplatte gezählt: Die CD eroberte den Weltmarkt. Und trotzdem hatte jemand die hirnrissige Idee, einen Second Hand Store für Vinyl zu eröffnen: Marc Weinstein führt heute das größte unabhängige (Secondhand-) Plattengeschäft der Welt: Amoeba Music. Es war ein anachronistischer, aber cleverer Schachzug, zu dieser Zeit diese riskante Idee umzusetzen: die Schallplatten, die andere loswerden wollten oder auf den Müll warfen, sammelte er dankbar zum Schleuderpreis ein.
Den ersten Store hat Marc Weinstein 1990 in Berkeley eröffnet, zwei weitere sind in San Francisco und L.A. dazu gekommen. Der Laden in Hollywood am legendären Sunset Boulevard ist der größte: 24.000 Quadratmeter, so groß wie sechs Schulturnsääle.
FM4 Alexandra Augustin
1 Million gebrauchte Platten, anyone?
Beim Betreten des Ladens offenbart sich ein wunderbares Universum: 2001 hat Marc Weinstein das Geschäft hier eröffnet, das sich an einer belebten Kreuzung inmitten von Hollywood befindet. Stammkunden, Touristen und Stars wie Dave Grohl, Henry Rollins und Patti Smith shoppen hier.
Amoeba-Gründer Marc Weinstein ist ein unglaublich freundlicher Mensch. Er nimmt sich Zeit für ein langes Interview, rund zwei Stunden plaudern wir. Er zeigt mir jede noch so versteckte Ecke. Ich komme mir überhaupt nicht wie eine Pressetante vor, die hier mit ein paar billigen Standard-Antworten abgespeist wird. Am Ende werde ich noch zur Firmenweihnachtsfeier eingeladen. Amoeba ist nicht nur ein Laden, sondern seine Familie. Als er mir aber konkrete Zahlen nennt, kippe ich aus den Latschen:
"Bis zu 6.000 Menschen gehen hier jeden Tag ein und aus. 230 Mitarbeiter arbeiten bei Amoeba. Rund eine Million gebrauchte Tonträger haben wir hier. Und bis zu 3.000 neue, gebrauchte Platten kaufe ich jeden Tag an."
Beim Eingang steht ein langer Tresen. Zwölf Mitarbeiter kümmern sich um die Menschen, die ihre gebrauchten Tonträger herbringen, um sie gegen Bares einzutauschen. Nicht nur Schallplatten, auch DVDs, VHS-Kassetten und CDs werden vorbeigebracht. Und das Geschäft läuft fantastisch, der Laden ist immer gut besucht:
"Ich liebe es, die Menschen im Laden zu beobachten. Hier in der Reggae-Abteilung stehen die Surfer aus Santa Monica. Da drüben sucht eine Familie nach DVDs. Und dann gibt es noch die Menschen mit viel Geld, die sich eine der seltenen Tonträger an der Wand gönnen. Das sind die teuren Stücke, 500 Dollar und mehr kosten die. Jeder Mensch ist ein kultureller Filter. Ich liebe es, die Gesichter der Menschen zu beobachten, wenn sie etwas finden, dass sie schon lange gesucht haben."
500.000 Platten warten Backstage im Lager
Doch die wahre Schatzkammer offenbart sich Backstage in einer riesigen Lagerhalle: Hier stapeln sich weitere 500.000 Tonträger, die für den Verkauf vorbereitet werden. Bei gedämpftem Licht wird das schwarze Gold poliert und danach ein Preis festgelegt. Zum Beispiel von Musikexperten und DJ Rick Frystak:
"Heute kümmere ich mich um rare Jazzplatten. Das hier ist eine Platte von Charles Mingus, sein 'Blues & Roots'-Album. Von dieser Platte gibt es viele Auflagen, aber nur die allerersten Pressungen sind die wirklich wertvollen. Reich wird man mit gebrauchten Platten trotzdem nicht. Es ist die Liebe zur Musik: Die gibt uns mehr als Champagner und Kaviar."
Mitten im Lagerraum sticht noch etwas ins Auge. Eine Fensterscheibe, die vom Boden bis zur Decke mit bunten 7" Platten überklebt ist - wie in einer gotischen Kathedrale. Marc Weinstein und seine Kollegen haben das Fenster dekoriert: "Wir haben so viele Platten, dass wir ein Kirchenfenster daraus gemacht haben. Der ganze Ort hier ist wie eine Kirche. Ein Mekka für Musik-Liebhaber!"
FM4 Alexandra Augustin
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Was ist das Geheimnis seines Erfolgs?
Während andere Plattenläden das Handtuch werfen, lebt Amoeba trotzdem gut vom Verkauf der alten Scheiben. 1.000 Schallplatten gehen in L.A. jeden Tag über den Tresen. Jazzfans, Heavy-Metal-Liebhaber und Freunde von Exotica und obskuren Musiken schätzen Amoeba. Seit Anbeginn war es für Marc Weinstein das größte Ziel, ein Ort "für alle" zu sein. Auch mainstreamtauglicher Musik verschließt er sich nicht. Doch im Gegensatz zu anderen Plattengeschäften verkauft Marc Weinstein seine Präsentationsfläche nicht an die Majors. Er bestimmt, was er in die Auslage stellt und auf die guten Plätze sichtbar beim Eingang und in den Regalen platziert.
Mitten im Raum stapelt sich daher kein öder Chartspop, sondern hier steht der "Altar der toten Helden": Ein Schrein mit Fotos und Relikten toter Musiker. An den Wänden hängen auch keine Poster aktueller - bald wieder verblichener - Popsternchen, sondern seltene, alte Konzertplakate.
FM4 Alexandra Augustin
Das beste Geschäft der Welt
Kein Wunder, dass viele Amoeba Music für das beste Plattengeschäft der Welt halten: Es ist diese einzigartige Authentizität, die man sonst nur selten in der Musikwelt findet, die Amoeba ausmacht. Hier zählt noch der persönliche Kontakt mit den Kunden und Künstlern. Amoeba Music ist eine Insel der Seeligen in einer schnelllebigen, kalten Welt, die vergessen hat, wie wichtig Musik ist. Und dann sind es noch die Kräfte des Melting Pot Los Angeles, die Marc Weinstein clever für sich nützt:
"Wir haben hier Communities aus Thailand, aus Armenien und aus Russland. Sie kommen nach L.A. und sie nehmen auch ihre Musik mit. Irgendwann landen die Platten bei uns, manchmal hunderte auf einen Schlag. Und plötzlich haben wir Berge an russischer Popmusik. Wo findet man das sonst in Amerika? Deshalb kommen die Menschen zu uns: Weil sie bei uns Sachen finden, die sie vorher noch nie gesehen haben!"
Amoeba ist nicht nur bei den Kunden beliebt, sondern auch die Musiker selbst sind große Fans. Die bedanken sich bei Marc Weinstein und spielen auf der kleinen Bühne im Geschäftslokal oft spontane Record Store-Konzerte. Elvis Costello, John Cale, PJ Harvey und Nancy Sinatra waren schon da. 2007 hat Sir Paul McCartney ein exklusives Konzert gespielt. Die Aufnahme ist danach sogar als limitierte Platte erschienen.
"Das war der schönste Tag in meinem Leben! Er hat mich angerufen und gefragt, ob er bei uns spielen kann. Eine Woche später fand das Konzert statt. Zwei Tage vor dem Konzert haben wir das publik gemacht und nur 1.000 Menschen durften rein und zuschauen. Vor lauter Rührung sind mir das ganze Konzert über Tränen die Wangen runtergekullert."
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Die dreiteilige Radioserie über die Amerikanische West Coast auf FM4 mit Alex Augustin.
Auch Marc Weinstein hat längst noch nicht alles gesehen und findet in seinem Laden oft Platten für seine eigene Sammlung. Raritäten und Perlen, die er nie im Leben hergeben würde: Sun Ra ist sein größter Held.
"Eines Tages brachte mir ein Tänzer aus seiner Gruppe eine Box mit Platten, die Sun Ra höchstpersönlich in seinem Wohnzimmer stehen gehabt hat. Diese Platten bedeuten mir alles. Unabhängige Künstler, denen es um die Kunst ging und nicht darum, möglichst viel Geld zu scheffeln. Die Menschheit wäre eine bessere, wenn sie erkennen würde, was Musik alles leisten kann!"