Erstellt am: 15. 4. 2014 - 15:26 Uhr
Europas Mauern müssen fallen
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Literaturrezensionen, AutorInnenporträts und Leseempfehlungen
Dorothee Elmigers erster Roman war nicht nur eines der meistbeachteten Debüts der jüngeren Vergangenheit, sondern ganz grundsätzlich eines der aufwühlendsten und besten Prosawerke in deutscher Sprache der letzten Jahre. Mit dem 2010 bei Dumont erschienenen Buch "Einladung an die Waghalsigen" konnte einen das Gefühl beschleichen, dass das ab und an doch noch glücken kann, dass Literatur "neu" zu klingen vermag.
Jürgen Beck
Mit kunstvoll verschraubter Sprache beförderte uns die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger in eine Welt, die schwer auszuloten war. Durchsetzt von lexikalischen Verweisen, historischen und geografischen Markierungen, geladen mit Information und erhellender Poesie. Eine Geschichte wurde auch erzählt. Man muss nun sicher nicht gar so öde sein, den Titel des Romans gleich als direkte Ansprache an die Leserschaft zu begreifen - eine abenteuerliche, nicht ganz leicht zu verarbeitende Erfahrung ist "Einladung an die Waghalsigen" doch. Nach 140 Seiten war das Buch dann auch schon zu Ende: Sicherlich, gerne hätte man mehr gehört, gleichzeitig war man von höchster Intensität ausreichend betankt.
Zu Recht wurde "Einladung an die Waghalsigen" mit bester Kritik und Preisen bedacht. "Schlafgänger", der vor kurzem erschienene zweite Roman von Dorothee Elmiger, geht noch weiter, ist, wenn man so will, noch experimenteller. Die Zuschreibung "Roman" greift gerade noch so.
Dorothee Elmiger liest im Rahmen von "Achtung: Die Schweiz" am 24. April in der Hauptbücherei am Gürtel aus "Schlafgänger". Außerdem mit dabei: Adolf Muschg und Andreas Neeser.
"Und war die Müdigkeit zu Beginn mit einem großen Flackern noch eingezogen und hatte mir, so rief der Logistiker, hinter den Lidern einen hellen Brand verursacht, so beruhigte sich alles ín einem Augenblick und ward still. So saß ich am Fenster, wach, ich tat kein Auge zu. In der Ferne fuhren Züge aus der Stadt hinaus auf andere Städte zu, kehrten zurück und immer weiter so."
So etwas wie Plot ist nur schwer auszumachen. Wir treffen auf mehrere Erzählerstimmen, die miteinander im Gespräch stehen. Eine Übersetzerin, eine Schriftstellerin, einen Logistiker, einen Journalisten und einige mehr. Wo sie sind - und warum - ist vage. Wir erfahren einige wenige Namen, Fortunat Boll, A.L. Erika. Was es aber mit diesen Personen auf sich hat, woher sie kommen, erschließt sich nur langsam und bruchstückhaft.
Unter anderem sprechen sie über Schlafentzug und den damit einhergehenden schleichenden Verlust des Verstandes. Vor allen Dingen aber unterhalten sie sich über Grenzen und Grenzgänger, über Flüchtlinge, Migration und Asyl. Über Wanderungen von da nach dort, über Möglichkeiten, ferne Länder und Abschiebung. "Schlafgänger" ist ein politisches Buch ohne dabei explizit große politische Thesen zu schwingen.
Kleinteilig setzt sich aus den knappen Anekdoten und Spinnereien der Figuren ein schwer zu durchdringendes Panorama zusammen. Auf ein eindeutiges Ziel scheint das Buch nicht zuzusteuern. Viel mehr könnte es um die Abbildung von Leben, verschiedenen Leben, Leben wie es sein kann, in kleinen Scherben gehen.
Dumont
"...die Grenzgänger waren unterwegs, Geld wurde gewechselt und Ware verzollt, eine Person wurde in eine Kabine gebeten, darin der Körper untersucht, ich wusste weder aus noch ein, war müder aber schlief nicht ein, nein, das Kind mit der Flöte ging mir auf den Geist, je schneller die Tage vergingen, desto länger wurden sie, und das Licht drängte sich gewaltig unter die Lider, die ich so weit wie möglich geschlossen hielt."
Wir hören von Fleischschmuggel, von Kokainschmuggel. Von der Praxis, sich die Fingerkuppen abzuschleifen, um eine Identifizierung durch Ordnungs- und Überwachungspersonal zu verhindern. Von La Réunion, einer frühsozialistischen utopischen Community in Dallas. Mexiko, Schweiz, Kalifornien - das Personal in "Schlafgänger" ist gut herumgekommen, und meist tatsächlich: gut. Im Rahmen von Urlaub, privater Reisen oder doch recht angenehmer beruflicher Umstände.
Immerhin mittelständischer Jetset wird hier in scharfen Kontrast zur Misere von Menschen gesetzt, die durch ökonomische Not, Verfolgung und andere lebensunwürdige Bedingungen gezwungen sind, ihren Aufenthaltsort zu wechseln. Und denen freilich oft der Zugang dahin, wohin sie eventuell gar nicht wollen, sondern müssen, verwehrt wird.
"Schlafgänger" ist ein anstrengendes Buch. Auf wie schon beim Debüt schlanken 140 Seiten sind hier enorm viele Ideen, Bilder und ein grandioser Fabulierungswahnsinn zu einem so dichten Text komprimiert, dass einem der Kopf raucht. Immer wieder muss man zurückblättern, um die Fäden neu aufzunehmen. Um sich von Tönen, Farben und verwinkelten Gedankenfahrten noch einmal verblüffen zu lassen. Dorothee Elmiger hat ein im besten Sinne merkwürdiges Buch geschrieben. Politik in Abstraktion und große, verwirrende Textkunst. Klar steht am Ende vor uns die Gewissheit da, dass vieles im Argen liegt auf dieser Welt. So haben wir es noch nicht gewusst.
"Im Fernsehen, sagte der Logistiker, fragte die Moderatorin: Was heißt es schlaflos zu sein, und wie findet man den Schlaf? Wir fragen: Was erleben Leute, die nicht schlafen können? Antwort: Zu Beginn ist mein Körper ganz ruhig und entspannt, dann fängt es direkt über den Augen an, da rennen die Gedanken hin und her, als könnte ich die Augen aus diesem Grund nicht schließen, dann fangen auch die Beine an zu zucken. Das löst eine Wut aus, sodass ich denke, ich springe aus dem Fenster oder ich schlage etwas zusammen. Aber um aufzustehen bin ich dann zu müde."