Erstellt am: 15. 4. 2014 - 14:46 Uhr
„Russisches Blut, Ukrainisches Herz“
"I hope I still can be wrong, but I think there will be war today in Ukraine."
Diese Antwort schrieb mir mein Kollege, der französische Journalist Stephane Siohan, heute morgen auf meine Frage, wie er die Situation in der Ostukraine einschätzt. Er war die letzten Tage im Donbass unterwegs, in Slowiansk und Donetsk, den Zentren der so genannten Separationsbewegungen. Noch vor zehn Tagen saßen wir gemeinsam in Kiew zusammen, am Abend vor meinem Flug nach Japan. Die Reise war lange geplant, doch angesichts der Situation in der Ukraine wusste ich nicht, ob ich mich wirklich auf den Weg machen sollte. Der einhellige Tenor meiner Kollegen: Das Zeitfenster für eine russische Invasion ist vorbei. Also stieg ich guten Mutes in das Flugzeug, und als ich in Tokio ankam, sah ich die ersten Schlagzeilen über die besetzten Verwaltungsgebäude in Donetsk und Luhansk. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Mit unseren Zukunftsvoraussagen lagen wir Journalisten in der Ukraine seit Monaten falsch. Immer, wenn wir dachten, dass der nächste Eskalationsschritt „sicher nicht passieren wird“, ist genau das eingetreten, so als ob es ein Gesetz gäbe, dass die schlimmsten Erwartungen sogar noch übertroffen werden.
APA/EPA/ANASTASIA VLASOVA
Auch diesmal war es so: Täglich eskaliert die Situation und das Szenario, mit dem viele Beobachter in der Ukraine schon vor drei Wochen gerechnet haben und das sie nun nicht mehr für denkbar hielten, ist tatsächlich eingetreten. Da ich selbst auf der anderen Seite des Globus bin, bin ich auf die Einschätzungen meiner Kollegen vor Ort angewiesen, und was ich lese, ist wenig ermutigend. Was im Osten der Ukraine vor sich geht, ist keine Separationsbewegung, wie in Medien oft zu lesen ist, sondern eine waschechte russische Invasion. Es ist ein ähnliches Szenario wie auf der Krim: Die „Demonstranten“ und Separatisten sind gut ausgestattete und organisierte Milizionäre. Es gibt eine Vielzahl an Hinweisen, dass sie von russischen Geheimdienstlern unterstützt werden oder sogar direkt unter ihrem Befehl stehen. „Grüne Männchen“, Soldaten ohne Abzeichen auf ihrer Uniform marschieren nicht mehr nur in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, sondern auch in Städten am Festland.
Allerdings geschieht die Invasion im Osten der Ukraine unter anderen Vorzeichen als auf der Krim. Dort gab es schon seit dem Kollaps der Sowjetunion echte Separationsbewegungen. Im Donbass, dem Zentrum der „pro-russischen“ Ukraine, stand ein Anschluss an Russland seit der Unabhängigkeit allerdings niemals auch nur im Ansatz zur Debatte. Der Regierung in Kiew standen die Menschen hier zwar seit jeher skeptisch gegenüber, aber ihre Zugehörigkeit zum ukrainischen Staat zweifeln nur die wenigsten an, wie unzählige Umfragen in den letzten zwei Jahrzehnten bestätigen.
Bei den pro-russischen Demonstrationen der vergangenen Woche waren nur wenige hundert, manchmal einige tausend Menschen auf der Straße. Diese Proteste sind nicht im Geringsten mit den Massendemonstrationen am Euromaidan in Kiew zu vergleichen, die im Dezember starteten und schlussendlich zum Sturz des Janukowitsch-Regimes führten. Im Gegenteil hat die russische Annexion der Krim eher zu Einheitsbewegungen als zu separatistischen Gefühlen geführt. Ein eindrucksvolles Bild davon konnte ich mir selbst vor zwei Wochen machen, als ich im ostukrainischen Kharkiv war. Ultras vom lokalen Fußballklub Metalist marschierten damals Hand in Hand mit normalerweise verfeindeten Anhängern von Shakthar Donetsk zum Stadion, lauthals „Fuck off Putin“ und andere Kraftausdrücke skandierend.
Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stimmung im Osten der Ukraine anders ist als im Westen oder in Kiew. Das hat aber nur sehr wenig mit ethnischen oder linguistischen Fragen zu tun, an denen die vermeintliche Spaltung des Landes immer wieder festgemacht wird, sondern vor allem mit ökonomischer Unsicherheit. Von Modernisierungsreformen im Zuge einer EU-Annäherung wäre vor allem die Schwerindustrie im Osten betroffen. Zudem gehen die meisten Exporte von dort nach Russland, ein Handelsstopp mit dem großen Nachbarn würde hier schnell zum Kollaps führen. Russland ist genauso abhängig von diesen Importen. Vor allem im militärischen Bereich bezieht Moskau viele Produkte aus dem Osten der Ukraine, ein Erbe der Sowjetunion. Ohne Triebwerke aus der Ukraine keine russischen Kampfhubschrauber. Dass die Intervention nur wenige Tage nach der Ankündigung der ukrainischen Regierung begann, die Rüstungsexporte nach Russland zu stoppen, ist in diesem Licht kein Zufall.
APA/EPA/ZURAB KURTSIKIDZE
Davon abgesehen hat Russland vielerlei Gründe für das gegenwärtige Vorgehen, von Destabilisierungsversuchen vor den Präsidentschaftswahlen, dem Durchsetzen einer Föderalisierung der Ukraine, um die Kontrolle über Regionen im Osten zu bekommen, bis hin zu einer tatsächlichen Annexion des ukrainischen Südostens und einer gleichzeitigen Landverbindung mit der Krim, die ansonsten nur über See versorgt werden kann. Was in den aktuellen Nachrichten oft übersehen wird, ist das Dilemma, vor dem die ukrainische Regierung steht. Putins Nachricht ist klar: Schreitet ihr nicht ein, marschiere ich ein. Leistet ihr Widerstand, habe ich noch mehr Grund, einzumarschieren – und es gibt ein Blutbad.
Die Rollen in diesem Konflikt sind ganz rational gesehen klar verteilt: Russland ist der Aggressor, die Ukraine das Opfer. Was mich fast sprachlos macht, wenn ich Berichte und Meinungen in Europa über die aktuelle Krise lese und höre, ist die Tatsache, dass die Ukraine selbst nur als passives Objekt zwischen den Mächten gesehen wird: Hier Russland, dort der Westen.
Wer hat was falsch gemacht, dass es zu dieser Krise kommen konnte? Zuallererst ist es nur deshalb eine Krise, weil Russland sie zu einer solchen macht. Die Ukrainer haben sich gegen ein autokratisches Regime aufgelehnt und für Demokratie gekämpft. Doch darüber wird nicht mehr gesprochen, stattdessen wird viel über „berechtigte Interessen“, „natürliche Einflusssphären“, „US- und NATO-Imperialismus“ gesprochen. So als ob nur der Westen oder Russland über das Schicksal der Ukrainer entscheiden könnten. Gleichzeitig gibt es in Europa offenbar eine weitverbreitete Vorstellung, dass es in der Ukraine nur nationalistische „pro-westliche“ und „pro-russische“ Moskauloyalisten gebe. Diese beiden Pole stellen aber nur eine verschwindend kleine Minderheit dar. Die meisten Ukrainer bewegen sich in ihrem Denken in der Mitte dieser Pole. Sie wollen in einem Land leben, das demokratischer ist als Putins Russland oder Janukowitschs Ukraine.
Als ich in Kharkiv war, sprach ich mit einem jungen Barbesitzer, Anton, Mitte Dreißig, alles andere als Anhänger der Maidanbewegung, ethnischer Russe. An seine Worte erinnere ich mich immer wieder, wenn ich darüber nachdenke, was gerade in der Ukraine passiert: „Ich habe russisches Blut, aber mein Herz ist ukrainisch.“ Bisher hat Europa der Ukraine außer mit verbaler Unterstützung nur wenig geholfen. Was immer nun geschehen mag, wir sollten endlich anfangen, Menschen wie Anton zuzuhören. Sie sind es, für die alles auf dem Spiel steht, nicht der Westen oder Russland.