Erstellt am: 14. 4. 2014 - 13:17 Uhr
Best Days
Digitales Fernsehen ist eine tolle Sache. In den letzten Tagen haben wir ohne ersichtlichen Grund alle BBC-Kanäle verloren, und ich bin die Troubleshooting-Checkliste schon durch bis zu dem Punkt, wo man aufs Dach steigt und sich die Antenne anschaut. Ist mir buchstäblich zu hoch.
Dieser private Senderausfall brachte jedenfalls mit sich, dass ich Freitagnacht den Schwerpunkt „Britpop at the BBC“ versäumte. Nicht ganz, natürlich. So wie das heutzutage eben ist, kriegte ich die Chronologie dieses Kramens im BBC-Archiv nach TV-Studio-Auftritten britischer Neunziger-Bands über meinen Twitter-Feed mit. Wie Nachrichten aus einer unerreichbaren Parallelwelt, die man selber besser nicht betreten will, verfolgte ich die öffentlichen Konversationen (ehemaliger) britischer Musikjournalist_innen meiner bzw. der etwas älteren Generation.
„Beatles für Mörder“, schrieb David Quantick bei seinem Wiedersehen mit Oasis. „Ich mag Country House“, tweetete Pete Paphides entschuldigend über Blur, „Madness durften sowas doch auch, oder?“ „Ja, aber ohne die bekokste Selbstgefälligkeit“, antwortete Quantick, „JESUS, IST DIESER ECHOBELLY-SONG LANG.“ Caitlin Moran reichte Pete Paphides als Retourkutsche zu seinem Blur-Tweet die Scheidungspapiere (die beiden sind miteinander und mit einem starken Hang zum Sarkasmus verheiratet). Der offenbar immer noch laufende Echobelly-Song hatte indessen in Paphides einen neuartigen Gefühlszustand ausgelöst, den er als „not-stalgia“ beschrieb. Und Moran schrieb vor ihren über 400.000 Followers an Quantick dieses Bekenntnis: „Ich fühle mich irgendwie schuldig. Das war alles unsere Schuld. Es passierte unter unserer Aufsicht.“
Wann kam es das letzte Mal vor, dass die potenziellen Gralshüter eines vorgeblichen Kulturschatzes sich bei dessen zeremonieller Ausbreitung in Bekundungen der Scham ergingen? Irgendwas ging da vor, und ich kann nicht so tun, als wüsste ich nicht genau was.
Es stimmt schon, in meiner eigenen kleinen österreichischen Welt war ich vor zwanzig Jahren selbst ein Britpop-Mitverantwortlicher. Das weiß ich, weil es mir seither weiß Gott genug Leute an den Kopf geworfen haben. Meist nicht zur Einleitung des Gesprächs, sondern später, wenn man einander einmal kennen und verstehen gelernt hat, als Anerkennung eines verdrängten Schandmals, über das man nun hinwegsehen kann. „Weißt du, ich hatte ja gedacht, du bist dieser Britpop-Typ.“
Ja, ich weiß.
Und ich habe mir vorgenommen, diesen kleinen Blog zu schreiben, ohne die versäumte Fernhsehsendung online nach-, bzw. alte Platten oder Magazine wieder rauszuholen. Mir reicht schon, was in meinem Gedächtnis hängen geblieben ist, von dem ganzen großen kulturellen Missverständnis, an dessen Ende das B-Wort stand.
Und auch an dessen Anfang übrigens, nur damals noch unbelastet.
Denn so spezifisch „Britpop“ in Britannien gebraucht wird, bei uns in der deutschsprachigen Welt war es einfach ein gängiges Kürzel für britischen Pop, das von älteren Acts wie Aztec Camera, New Order bzw. Electronic, Morrissey, Lloyd Cole, Edwyn Collins oder XTC, dem Song-lastigen Teil der „Madchester“-Welle (Stone Roses, Charlatans) über sprödere Ausläufer wie die 4AD-Bands oder The Wedding Present bis hin zu Saint Etienne oder den Lightning Seeds auf praktisch jede Popmusik aus Großbritannien angewendet wurde, die man auf dem Kontinent nicht auf Massenbasis, sondern nur in der anglophilen Nische verstehen wollte.
Als ich in der zweiten Hälfte von 1991 in Wien mit dem Musikjournalismus anfing, passten da etwa auch lärmigere Creation-Bands wie House of Love und Ride hinein, und mit ein bisschen angewandter Rock-Toleranz sogar noch deren – damals – grunge-igere Label-Kollegen Teenage Fanclub, von denen wiederum eine direkte Linie zu Leuten wie den Pastels oder den BMX Bandits führte.
Und klar, Blur gehörten auch mit dazu. Die wurden in den wöchentlich bei Rave Up Records in der Hofmühlgasse erstandenen, importierten britischen Wochenblättern NME und Melody Maker zwar gerade ziemlich brutal abgehypet, aber ich glaubte damals, aus Songs wie „She's So High“ oder „Sing“ mehr als nur das ihnen vorgeworfene Aufspringen aufs Trittbrett des gerade abgefahrenen Baggy-Booms herauszuhören. Syd Barrett vor allem.
Vertrieben wurden die meisten dieser Platten großteils gar nicht. Die Plattenläden importierten umso mehr. Ansonsten kamen sie vielleicht aus einem kleinen Büro im neunten Wiener Gemeindebezirk von einer schon lange nicht mehr existenten Firma namens Echo mit Hauptsitz in Graz, oder von Ixtuluh in Pasching (hatte Trost damals einen internationalen Vertrieb?).
Und wenn einmal zufällig was in die Zuständigkeit eines Majors fiel, hieß es bei Interviewanfragen nur: „Tut uns leid, aber dieser Act ist für uns keine Priority.“ Sprich: Nicht das Fax nach London wert.
Auch egal, in den meisten Fällen reichte es, sich bei einem der großen britischen Festivals als Journalist akkreditieren zu lassen (in Glastonbury musste man den normalen Eintrittspreis zahlen, der lag bei vierzig oder fünfzig Pfund für das ganze Wochenende) und die Bands mit gezücktem Aufnahmegerät in der Hospitality Area anzusprechen. Alle hatten sie ausnahmslos zwanzig Minuten Zeit für Austrian radio.
All das änderte sich 1994. Es war die Zeit, als in Großbritannien beim von einer Identitätskrise heimgesuchten BBC-Jugendmusiksender Radio One ein gewisser Matthew Bannister das Ruder übernahm, Phil Collins und Konsorten aus der Playlist warf und die Majors fragte, was sie ihm stattdessen an neuer britischer Musik zu bieten hätten.
Dies traf sich gut, zumal jene ebenfalls orientierungslosen Majors gerade dabei waren, einen Haufen praktisch bankrotter oder sonstwie finanzschwacher Indie-Labels aufzukaufen (in Großbritannien herrschte tiefste Rezession) und deren kommerziell vielversprechendste Acts auf den Pop-Markt loszulassen.
Als Antwort auf Bannisters Einladung schickten sie ihm Platten von Blur (Food Records via EMI), Suede (Nude via Sony), Pulp (die von Fire via Gift Records zu Island gewechselt hatten, das gerade von Universal geschluckt wurde) und natürlich Oasis (Creation via Sony).
Das Suede-Debüt wurde 1993 in Großbritannien von einer Riesen-Plakat- und Inseratenkampagne und der vereinten Musikpresse erfolgreich auf Nummer eins (Nummer 50 in Deutschland, gar nicht in den Charts in Österreich) gehievt. Die Majors begannen daraufhin ernsthaft Blut zu lecken, wühlten ein bisschen tiefer in der Handkassa und schickten ihre A&R-Agenten aus in Richtung Camden Town.
Ungefähr gleichzeitig heuerte in Wien Willi Türk, der als erstaunlicher Credibility-Bonus einmal bei Ronnie Urini die Orgel gespielt hatte, bei der bis dahin an meinen Anfragen im Namen der Ö3 Music Box nur mäßig interessierten EMI an.
Und er besorgte mir glatt mein erstes Interview mit Blur.
Ein weiteres Glück war, dass Klaus Nüchtern, Kulturredakteur beim Falter, als alter Soft Machine-Fan Interesse an kauziger britischer Musik zeigte. Und so durfte ich meinen ersten Halbseiter über Blur, Ride und Suede schreiben.
So um 1993 herum wurden die britischen Musikwochenzeitungen, jetzt plötzlich voll mit farbigen ganzseitigen Inseraten zu neuen Releases, die man auf den Straßen Londons überall als ebenso vierfarbige Plakate wiedererkannte, auffällig hysterischer. Blur waren schlagartig nicht mehr peinlich, sondern tolle Burschen.
Sie hatten in der Zwischenzeit ihren Bekleidungsstil in Richtung Second Hand Semi-Mod geändert. Offiziell abgesegnet trendy, soviel muss man auch rückblickend anerkennen, war das zu jener Zeit ganz sicher nicht. Aber es lag in der Luft.
Die populärste Club-Nacht in Camden hieß nicht zufällig „Blowup“ und spielte eine Mischung aus Northern Soul, Sixties-Pop und neuen britischen Bands. Die Generation knapp unter meinem Alter (ich war Anfang zwanzig, so wie die DJs und die Bands, aber ein wenig älter als ihr Publikum) entdeckte Dinge, die mir allesamt aus meiner Mod-Vergangenheit sehr bekannt vorkamen. Das war die Fährte, die Blur witterten.
Phil Daniels als Gastsänger, wieso nicht? Das Hunderennen-Motiv wusste man als Anspielung auf „Dogs“, den unterschätztesten Flop von The Who (1968) zu entschlüsseln. Man konnte sich an diesen Enttabuisierungen und Wiederentdeckungen weiden, aber ohne den erstickenden Elitarismus, der in den Achtzigern die Neo-Mod-Szene so stressig gemacht hatte. Das hier wollte Pop sein und allen gehören.
Man konnte „Making Judy Smile“ von Ride hören und dann beim Reading Festival mit Andy Bell über die Small Faces plaudern und aufgeregt deklamieren, dass Gitarrenbands ab nun wieder das tun könnten, was sie irgendwann in den Indie-Achtzigern aufgegeben hatten: Popmusik für eine bessere Welt statt nur für die eigene Szene zu machen (Wir erinnern uns heute nicht mehr daran, weil es schon damals nicht viele mitkriegten, aber das desperateste Musikpresse-Phänomen der frühen Neunziger, dem Anfangs auch Ride zugerechnet wurden, trug den griffigen Namen „The Scene That Celebrates Itself“).
Natürlich war das aufregend, auch wenn ich zwei Tage darauf Bells Bandkollegen Steve Queralt zuhause in Oxford interviewte und der nur mit den Augen rollte: „Was, hat Andy wieder seinen Rockstar-Act abgezogen?“ Ich wusste nicht, wovon er sprach.
Werner Geier kam eines Tages mit dem NME in der Hand in die Music Box-Redaktion geschlendert und sagte halb neckisch, halb verwundert: „Die Bands da schauen ja alle aus wie kleine Rotifers.“
Das war – siehe oben – natürlich kein Zufall. Mein durch 9ts-taugliche Jeans-Längen-und-Weiten abgedämpfter Sixties-Fetisch hatte sich mit der zunehmend prononcierten Retro-Tendenz der sich aus der Londoner Indie-Welt heraus entwickelnden Britpop-Szene (im britischen Sinn des Worts) irgendwo in der Mitte getroffen.
Ein Blick in mein Foto-Album sagt, dass diese Mitte nicht unbedingt ein sonderlich attraktiver Ort war, aber es hatte davor und hat seither schon Schlimmeres gegeben.
Mein Zuhause-Gefühl war nun jedenfalls in London stärker als Wien, und ich hielt damit sicher nicht hinterm Berg (irgendwo in den Melody Maker-Archiven ruht eine schreckliche „Letter From Austria“-Kolumne, die ich darüber schrieb, dass in Österreich nichts los sei – ein Jahre später kamen Kruder & Dorfmeister, das sollte mir eine Lehre sein).
So wie meine Heartbeat-Kollegin Eva Umbauer (die diese Idee schon gute anderthalb, vielleicht sogar zwei Jahre vor mir mit unerschrockenem Pioniergeist durchzog) spielte ich immer konkreter mit dem Gedanken, gleich nach England zu ziehen. Schließlich brauchte man dazu jetzt keine Aufenthaltsbewilligung mehr.
An einem Frühlingstag 1994 fand ich ein Kuvert von der Sony mit einer Kassette drin in meinem Postfach. „Supersonic“ von Oasis, über die ich in den besagten Wochenblättern soviel Schwärmerisches gelesen hatte. Ich probierte den Song im Auto aus, aber er klang mir beim ersten Hinhören viel zu sehr nach U2 und Stadionrock, also verschwand das Tape auf Nimmerwiedersehen im Handschuhfach.
Schließlich gab es genug interessantere, ebenso neue Platten von Stereolab, The Divine Comedy, den Tindersticks oder Pulp. „His and Hers“, auf dessen Veröffentlichung wir nach dem frühen Auftauchen der Promo-Kassetten über ein Jahr lang gewartet hatten, schlug die Brücke zu „Eh lieb, aber kennen wir doch alles schon von früher“-Britpop-Skeptikern wie Fritz Ostermayer. Detto die damals noch sehr brachial ans Werk gehenden Cornershop. Ich hatte die Band rund um den im Vergleich zu den meisten seiner Zeitgenossen erfrischend wortstarken Tjinder Singh 1993 zum ersten Mal in London erlebt und interviewt und trug ihr Merch-T-Shirt seitdem besonders oft: Ein klassisches Mod-Target mit dem großartigen Schriftzug „Token Honky“ (Alibi-Weißer) drauf.
Ich erwähne das hier, weil diese schlaue Umdeutung eines patriotisch-nostalgischen Pop-Symbols illustriert, wie das Narrativ des Britpop damals in eine völlig andere Richtungen weitergehen hätte können.
Das war der Strohhalm, an den ich mich klammerte. Während die Dinge ihren unaufhaltsamen Lauf in Richtung des Grauens nahmen, konzentrierte ich mich auf jenen roten Faden, der mir ins eigene Konzept passte:
War nicht Blur-Gitarrist Graham Coxon der Boyfriend von Jo von der Riot Grrrl-Band Huggy Bear, die ihrerseits zu einer lebhaften neuen Independent-Szene rund um Labels wie Too Pure und Wiiija Records gehörte? Ließ sich da nicht eine Verbindung konstruieren aus dem, was plötzlich Charts-Pop geworden war, und einer frisch politisierten neuen Spielart des alten DIY-Punk?
Sicher, mein erstes Gespräch mit Damon Albarn hatte nebst erfreulichen Bekenntnissen zum Pop, wie man sie von Gitarrenbands seit den frühen Achtzigern schon nicht gehört hatte, auch eine ermüdende Menge patriotischen Nonsens enthalten. Parolen, die erschreckend gut zum damals propagierten „Europa der Regionen“ passten, unter denen Österreich ab nun in typischer Mischung aus Arroganz und Kleinhäuslertum der „Feinkostladen“ sein wollte (die Abstimmung zum EU-Beitritt fand anderthalb Monate vor dem Release von „Parklife“ statt). Großbritannien dagegen sollte (zumindest in Damons Kopf) Europas erwählte Region der Popmusik sein.
Allerdings: Kernöl ist ein wertvoller Beitrag zum Marinadenreigen der Welt, und gleichermaßen hatte auch Damon bereits einige große Songs geschrieben. „Modern Life Is Rubbish“ (1993) bleibt für mich der Höhepunkt in Blurs Schaffen, der gitarrenverseuchte Retro-Elektropop von „Girls & Boys“ wiederum klang Anfang 1994 im Kontext der Zeit auf spannende Weise gänzlich alien. Und Damons Freundin Justine Frischmann spielte in Elastica, einer Band mit von drei herrlich herablassenden Frauen gespielten Riffs, die so trocken produziert waren, dass sie wie vakuumverpackt klangen; frisch geklaut vom „Post Punk“-Regal, an dem sich schon Jahrzehnte niemand bedient hatte.
Warum so viele der anderen Bands, die ich interviewte, so feindselige Gefühle gegen diese Blase entwickelten, konnte ein Wiener nicht verstehen, dessen Ohr nicht eingestimmt war auf die Feinheiten von Lautverschiebungen gekennzeichneter Klassenmerkmale bzw. der unverzeihlichen Anmaßung derer Aneignung (die coole Cockney-Falle).
Die Briten hatten das alte Wort „Britpop“ in der Zwischenzeit selbst immer öfter zu verwenden begonnen, allerdings nur für diese bestimmte Sorte Bands, was rückbezüglich – so viel verstand ich sehr wohl – all jene ausschloss, die nicht britisch, aber genauso Pop, bzw. genauso britisch aber nicht Teil dieser (fast vollständig weißen) Szene waren.
In meinem Enthusiasmus war ich nur zu gern bereit, diesen zunehmend unansehnlichen nationalen Eifer als bloße mediale Verkürzung abzutun. Ein Missverständnis, das sich irgendwann aufklären würde, dachte ich. Und schrieb das mit mantrischer Beharrlichkeit in Artikeln und Radiomanuskripten, die in Großbritannien freilich keiner las oder hörte (selbstkritischer Nachsatz: Ich war in meiner notorischen Anglophilie als freier Musikjournalist auf einmal ganz passabel im Geschäft – wieso sich dem verweigern?).
Jarvis Cocker ließ sich in einer infantil antiamerikanischen Cover-Story für die jingoistische Agenda der aufgeregten Musikmonatsschrift Select rekrutieren (die Zitate sind mir gnädigerweise entfallen, oder ich hab sie verdrängt; sie waren schmerzhaft). Aber ich wusste auch, dass er ein Freund der zielsicher alle guten Leute um sich versammelnden Pastels war, die mich als erste auf Domino Records hingewiesen hatten – ein neues Label, das sich darauf zu spezialisieren schien, den Briten dem wachsenden Kanon an Matador-Bands wie Pavement oder Silver Jews näher zu bringen.
Während Kurt Cobain sich noch seine letzten paar Wochen lang mit seiner Rolle als unfreiwilliger Zuarbeiter des revisionistischen Rockismus quälte und sein Verfall dabei auf tragisch ironische Weise erst recht den müden, alten Rock-Stereotyp des Selbstzerstörers reproduzierte, gab es da eh schon ein ganz anderes Amerika zu entdecken, soviel war längst unübersehbar klar.
Wir hatten die Breeders, wir hatten Beck, Pavements „Crooked Rain, Crooked Rain“, die Blüteperiode des Grand Royal-Labels der Beastie Boys, und darüber hinaus hörte die Wiener „Britpop“-Szene übrigens genauso gern Hamburger Bands wie die Sterne oder die Goldenen Zitronen.
Robert Rotifer
In London wiederum konnten die Major-Labels ihr Glück nicht fassen. Statt sich mit satten, alten Rockstars und Diven herumärgern zu müssen, brauchten sie nur in irgendeines der Pubs am Parkway zu gehen. Die gingen nur so über vor selbsttätig geklonten jungen Bands, die genau wussten, was verlangt war und sich mit 20.000 Pfund Vorschuss glücklich machen ließen. Also nahmen sie alle davon unter Vertrag. Fast alle.
„Ehrlich gesagt glaub ich nicht, dass ich was damit anfangen kann“, sagte der A&R-Typ eines jener vielen Pseudo-Indies, die die Majors zu jener Zeit gegründet hatten, als ich ihm die Kassette meiner Band in die Hand drückte, „Heutzutage muss man schon britisch sein, um einen Deal zu kriegen.“
Und wenn das Austrian radio jetzt die Bands bei einem Festival in der Hospitality Area nach einem Interview fragte, hieß es plötzlich: „Da muss ich erst meinen Manager fragen.“
"Other people turn around and laugh at you, if you say that these are the best days of our lives" (Blur, Best Days, 1995)
Ich redete mir damals und auch später, als längst alles vorbei war, erfolgreich ein, die Ankunft der Dumpfgummis in unserem Garten, die grölend auf die frischen Triebe in den Beeten pissten, hätte alles zerstört.
Ich kann mich erinnern an meinen leisen Schock, als wir Tocotronic im FM4-Studio zu Gast hatten, und Arne Zank auf die stupide, aber damals populäre Frage „Oasis oder Blur“ mit „Oasis, ist doch klar“ antwortete.
Seine Begründung dafür weiß ich nicht mehr auswendig, aber es war eine deutsche Version des rund um Oasis damals wie heute verlässlich aufgetischten „You get it or you don't“-Arguments. I did get it, das war ja gerade das Problem.
Konnte doch jedeR sehen, dass dieses restaurative Rock'n'Roll-Gepose, dieser selbstzufrieden schwammige Sound, diese völlig touristische, nonsubtile Beatles-Verehrung, verbunden mit der völlig irren Annahme, dass paläozoisches Imponiergehabe, heraushängende überweite Oberhemden und Watschelgang irgendwie proletarisch und daher ein gelungener Schlag ins Gesicht der präpotenten Patrizier seien, in Kürze alles zunichte machen würde, was am Phänomen der britischen Pop-Explosion spannend und bemerkenswert gewesen war.
Wer glaubt, dass das hart ist, sollte einmal den Mann, der damals im Dauerrausch Alex James und Damon Albarn AIDS an den Hals wünschte (für britische Ohren unüberhörbarer, unverzeihlicher Subtext: die Weicheier aus dem Süden sind doch alle Schwuchteln) und sich seither – in der Sicherheit seines Reichtums und der Erleuchtung seiner Nüchternheit – zu einem der ehrlichsten, sympathischsten und gewitztesten Nacherzähler jener Zeit entwickelt hat, über seine eigene Band urteilen hören.
Gerade erst hatte sich ein Fenster zur Infiltrierung des Mainstream geöffnet. Und Oasis war für mich die Verschwendung eines großen Moments der Möglichkeiten.
Aber das stimmte so eben nicht, da gehörten schon zwei dazu.
Die Alternative zu „Roll With It“ war schließlich „Country House“, eine Single, die auch damals niemand wirklich hören wollte. Am Ende war das – auch wenn man sich in den Neunzigern des laddism da oft nicht so sicher sein konnte – immer noch Musik und nicht Fußball, wo man ein schlechtes Spiel gutheißt, solange das eigene Team gewinnt. Und zwar wo? In den Verkaufs-Charts, die zu jener Zeit noch dazu mit multiplen CD- und Vinyl-Releases überschwemmt wurden, in der Hoffnung, dass die Fans alle davon kaufen würden? Waren jetzt denn alle völlig deppert geworden?
Ich kann mich daran erinnern, wie die Kritiker_innen in den Broadsheet-Kulturbeilagen „Country House“ damals dafür priesen, dass darin „Balzac“ auf „Prozac“ gereimt wird. Ich nahm irrtümlich an, dass da offenbar was dran sein musste, das ich als Fremdsprachler nicht verstand, aber mehr als ein bisschen Zwinkern in Richtung Bildungsbürgertum war da nicht. Jahrzehnte später ließ sich derselbe überzogene Enthusiasmus am Beispiel von Lily Allen und ihrem Reim von „Tesco“ auf „al fresco“ beobachten. Es sind solche gut gestreuten „Ich versteh das“-Signale, aus denen die britische Middle Class in ihrem Pop-Verständnis ein Gefühl der Überlegenheit deriviert.
Als ich dann eines Tages 1995 in Amsterdam mit „The Great Escape“ im Discman zu meinem zweiten Blur-Interview schlenderte, skippte ich mich an „Country House“ oder „Topman“ vorbei zu „Best Days“, „He Thought of Cars“ oder „Yuko and Hiro“ durch. Soweit ich mich erinnern kann, war Damon zu diesem Zeitpunkt schon über den fehlgeleiteten Erfolgsrausch der bescheuerten Charts-Schlacht hinweg, aber Alex James hielt sich das ganze Interview über an seiner Champagner-Flasche fest.
Wenn die ganze Britpop-Sache sich größte Mühe gab, die Sixties wiederzuspiegeln, dann hatten wir Dekadenz-technisch in einem Jahr von 1964 circa bis 1974 vorgespult (welches im Fall von Oasis dann bis 1997 anhielt).
Allerdings, es gab immer noch Ausweichrouten. Wer nicht Shed Seven sagen wollte, konnte immer noch Supergrass sagen („Alright“ mag schlecht gealtert sein, aber „Caught By The Fuzz“ bleibt einer der besten britischen Teenager-Songs ever). Sogar Creation, einem Label, das sich in seinem Kokser-Gehabe längst den sozialen Gepflogenheiten der Werbe- und Bankenbranche angenähert hatte, kam immer noch eine Band wie die Super Furry Animals unter. Nicht zu vergessen: Pulps komplettestes Werk „Different Class“ erschien erst Ende 1995, und das darin enthaltene „Common People“ ist – bis auf den verzichtbar xenophoben Seitenhieb, dass die rich kid-Kunststudentin „from Greece“ kommt, so als hätte St Martins nicht genug britische posh kids zu bieten – ein derart unbestreitbarer Klassiker des Genres politischer Popsong, dass diese vier Minuten fünfzehn allein schon die ganze Existenz des Britpop rechtfertigen.
Aber die Unschuld des B-Worts war für immer verloren, da gab es nichts zu verteidigen.
Als ich dann im Jänner 1997 tatsächlich nach London zog, hatten Blur sich bereits im isländischen Exil als Anti-Britpop-Band neu erfunden und Oasis waren dabei, sich mit „Be Here Now“ zu Tode zu siegen. Aber die Szene, die sie einmal auf Händen getragen hatte, war bereits verschwunden.
Die erste Single des Oasis-Albums trug den Titel „D'you Know What I Mean?“, das Popsongtitel gewordene Äquivalent des anämischen Wahlslogans einer Zentrumspartei, die allen gefallen will, aber für die niemand je auf die Barrikaden steigen würde. Sie erschien zwei Monate nach dem Wahlsieg Tony Blairs.
Das war also, wo der rote Faden tatsächlich hingeführt hatte.
Kein Wunder, dass sich die Nostalgie in Grenzen hält.