Erstellt am: 11. 4. 2014 - 18:10 Uhr
Familienbetrieb
Zuallererst war "Unternehmer" ein abgeschlossener Text, den Matthias Nawrat bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2012 in Klagenfurt las und dafür den Kelag-Preis erhielt. Der nun daraus entstandene gleichnamige Roman ist Nawrats zweite Veröffentlichung und spielt wie sein Debüt „Wir zwei allein“ im Schwarzwald.
Darin beschreibt er eine dystopische, fast schon postapokalyptische Welt. Das Schwarzwaldgebiet ist verlassen, die Menschen sind arm, die einst leuchtende Vergangenheit scheint entrückt und nur mehr über ihre technischen und industriellen Hinterlassenschaften zugänglich. Das sind vor allem industrielle und technologische Relikte, verlassene Industriegebäude, verfallende Fabriken, sogar ein stillgelegtes Atomkraftwerk. Irgendwo sei eine Sojus-19-Rakete abgestürzt, erfährt man in einem Halbsatz. Es ist die Welt der dreizehnjährigen Protagonistin Lipa, ihren Eltern und ihrem einarmigen Bruder Berti. Sie sind die Unternehmer. Ihr Geschäft: das Extrahieren seltener Metalle aus den Innereien weggeworfener oder unbrauchbarer technischer Gerätschaften. Man stolpert über Wörter wie Kationen-Austauscher-Harz, Molybdän-Oxid-Konzentrat oder Ammonium-Hepta-Molybdat-Hydrierungsverfahren.
Glorifizierung der Selbstaufopferung
Rowohlt Verlag
Matthias Nawrat "Unternehmer", erschienen im Rowohlt Verlag
Tantal und Wolfram, […] werden uns besonders reich machen, liest man gleich zu Beginn des Romans. Es ist der Vater, der das sagt. Er ist Familienoberhaupt und somit (gewissenloser) Unternehmensleiter. Täglich ist er mit seinen Kinder unterwegs, klappert Fabriksgebäude und Schrottplätze ab, denn Lipa und ihr kleiner Bruder Berti gehen nicht zur Schule: das ist etwas für die Arbeitslosen. Die Arbeit, die Selbstständigkeit, das Unternehmertum werden hochstilisiert zur einzig zielführenden, weil profitablen Daseinsform. "Die Familie ist eine Kapitalgesellschaft", hat Vater mir einmal erklärt. "Was man einträgt, darf man mit Profit zurückerwarten." Unternehmer zu sein heißt, Opfer zu bringen, Aufopferung wird glorifiziert. Die Maßnahmen zum Erhalt der Familie gehen auf Kosten von deren Mitgliedern. Fast alle Familienmitglieder sind krank, leiden am großen Husten, an Kopfschmerzen, Lipas kleiner Bruder Berti verliert bei der Arbeit sogar einen Arm.
Sprache als Weichzeichner
Aus der Perspektive der jungen Lipa erzählt Nawrat in einer kindlich anmutenden Kunstsprache, die wie ein Weichzeichner wirkt für die oft traurigen oder schauderhaften Dinge, die beschrieben werden. Computer sind Robuste aus Anthrazit, Geld wird als Klimpergeld, ein Atomkraftwerk das Weltraum-Kraftwerk bezeichnet. Und auch die Familie redet sich die Dinge schön. Vom Vater bekommt Berti die Bezeichnung Spezial, weil er mit seinem dünnen Arm auch noch in die kleinsten Maschinen fassen kann, Lipa ist die Assistentin, die die Standorte verlassener Industriegebäude protokolliert. Die triste Situation und der Kampf ums finanzielle Überleben am Existenzminimum wird von der Familie durch ihre verklärte Ideologiebrille zum Daseins-Zweck erhoben.
[…]dem Tabernakel meines Herzens wieder die Hostie meiner Arbeitskraft entnehmen und sie dem Arbeitsmarkt zur Speise reichen., hieß es auch schon bei Peter Licht, ein paar Jahre vor Nawrat, ebenfalls in Klagenfurt bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur. Die Familie in "Unternehmer" braucht ihre Ideologie, um die prekären Verhältnisse ertragen zu können.
Der Versuch auszubrechen
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Erst als sich Lipa in den Langen-Nasen-Timo, einen „arbeitslosen“ Schüler, verliebt, gerät sie in kritische Distanz zu diesem selbstzerfleischenden System, aus dem sie in Folge auszubrechen versucht. Fast förmlich muss sie beim Vater um einen freien Tag ansuchen und entschließt sich schon bald, mit dem Langen-Nasen-Timo fortzugehen. Doch als ihr Vater erkrankt und die Familie kein Geld mehr für Lebensmittel hat, muss sie sich entscheiden.
"Unternehmer" von Matthias Nawrat ist die großartige Coming-of-age-Geschichte eines jungen Mädchens, kann aber auch als Sinnbild für Prekariat und die tonangebende Ideologie gelesen werden, wie sie in der Welt vieler Selbstständigen, Kreativen und auch Journalisten vorherrscht.