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Christian Pausch

Irrsinn, Island, Ingwer.

17. 4. 2014 - 15:25

Die genügend gute Mutter

Alison Bechdels Comic-Drama "Are you my mother?" ist jetzt auf Deutsch erschienen. Ein autobiografischer Einblick in eine verzwickte Mutter-Tochter-Beziehung.

Gleich am Anfang muss gesagt werden, dass die deutsche Version von "Are you my mother?" dem englischen Original in Nichts nachsteht, außer in einem: dem Titel.

"Wer ist hier die Mutter?", heißt die deutsche Ausgabe und stellt somit gleich eine viel aggressivere Eingangsfrage. Verwirrend auch, da das Erste, was dann im Buch zu lesen ist nicht wirklich eine Antwort auf die im Titel gestellte Frage gibt, im englischen Original aber sehr wohl Sinn macht.

Wer ist hier die Mutter

Kiepenheuer&Witsch

Mit "Fun Home" hat Alison Bechdel 2006 ein beeindruckendes Debüt geschrieben. Wobei: Das Wort Debüt ist hier eigentlich ganz falsch. Comics veröffentlicht die 1960 in Pennsylvania geborene Autorin nämlich bereits seit 1986, dennoch hat ihr erst "Fun Home" großen internationalen Erfolg beschert.

Der zweite Streich

Wie es auch bei Musikern_Musikerinnen oft der Fall ist, erwartet man das zweite Album, nach einem erfolgreichen Erstlingswerk, mit viel größerer Spannung. Der Stress, der durch diesen Erwartungsdruck bei der Künstlerin entstanden ist, ist auch Thema im Buch, das generell ganz autobiografisch erscheint. Alison Bechdel lässt ihrem ersten Buch, in dem es um die Beziehung zu ihrem bereits verstorbenen Vater ging, jetzt ein Buch über das Verhältnis zur Mutter folgen.

Ausschnitt aus dem Comic "Wer ist hier die Mutter"

Kiepenheuer&Witsch

Dass Bechdel selbst gerne liest, merkt man in "Are you my mother?" sofort. Um ihre eigenen Theorien zu untermauern, zitiert sie gerne andere Schriftsteller_innen, allen voran Virginia Woolf. Nach den langen Psychoanalyse-Sitzungen, in denen sie versucht die Beziehung zu ihrer Mutter besser zu verstehen, liest sie selbst noch viele Texte aus der Psychologie, vor allem die von Donald W. Winnicott, der im Buch fast gleich oft zu Wort kommt, wie Bechdel selbst. Besonders Winnicotts These der "genügend guten Mutter" ist Bechdel wichtig.

Telefon-Diskussionen

In "Are you my mother?" erlebt man Bechdel in ihren oft wechselnden Liebesbeziehungen, in Rückblenden sieht man sie als Kind, das versucht die Mutter für sich zu gewinnen, man geht mit ihr gemeinsam zur Psychoanalyse und kriegt Schweißausbrüche, wenn wieder ein Besuch bei der Mutter ansteht. Diese Besuche sind aber viel zu selten, die direkte Konfrontation mit der Mutter findet fast nur am Telefon statt, da die beiden in unterschiedlichen Städten leben.

Ausschnitt aus dem Comic "Wer ist hier die Mutter"

Kiepenheuer&Witsch

bechdel

Kiepenheuer&Witsch

"Wer ist hier die Mutter?" ist bei Kiepenheuer&Witsch erschienen.

Im Gegensatz zu ihrem ersten Buch fehlen in diesem die starken persönlichen Momente. Bechdel verstrickt sich in psychoanalytischen Theorien und überanalysiert zu oft. Das wichtige Lese-Erlebnis, sich eigene Gedanken aus dem Gelesenen machen zu können, wird einem in "Are you my mother?" teilweise genommen, da jede Situation von der Autorin selbst sofort interpretiert wird.

Bechdels Zeichenstil ist aber ungebrochen gut und macht Freude. Die Farbe Rot wird in ihrem sonst schwarz/weiß gehaltenen Comic nur minimalistisch, aber wohlüberlegt eingesetzt. "Wer ist hier die Mutter?" eignet sich zwar nicht wirklich als Muttertagsgeschenk, ist aber für die Erforschung der eigenen Kinderseele eine gute Begleitlektüre. Und eines Tages werden wir vermutlich Bechdel zitieren, so wie sie es mit Woolf und Winnicott tut.