Erstellt am: 9. 4. 2014 - 15:08 Uhr
All good children go to heaven
Gleich neben dem Haus in dem ich wohne, im 12. Bezirk in Wien, befindet sich ein Altersheim. Es ist kein nobles oder teures Ding. Die Wiener Arbeiterklasse verbringt dort ihre letzten Tage. Jeden Tag steht vor dem Altersheim entweder ein Kranken- oder ein Leichenwagen. Ich sitze an meinem Fenster und hoffe, dass er nicht wegen meinem Freund Herrn Hugo da ist. Meinem Freund aus dem Altersheim. Herr Hugo ahnt überhaupt nicht, dass ich existiere, aber ich beobachte ihn fast jeden Tag. Er ist meine Zeitmaschine.
Jeden Tag, genau um neun Uhr, geht er raus auf die Straße. Er bewegt sich mit seiner Gehhilfe langsam, aber sicher fort. Jedes Heben der Gehhilfe ist wie eine kleine Zeremonie. Heben. Leicht nach vorne schieben. Kleine Schritte. Halten. Wieder heben. Nach dem siebzehnten Heben hat Herr Hugo die polnische Kirche erreicht. Hier macht er eine Pause und wischt den Schweiß von seiner Stirn.
CC-BY-2.0 / Elena Incardona
Alle sechs, sieben Schritte bleibt er stehen und hört sich um. Was hört Herr Hugo? Die donnernden Stiefel der Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg? Zu dieser Zeit war er ein Kind. Er hatte den Steinbogen vor dem Haus gegenüber bestiegen um die marschierenden Soldaten besser zu sehen. Herr Hugo beobachtet den Bogen lang. Vielleicht erinnert er sich daran, wie das Haus im Krieg von einer Bombe getroffen wurde? Herr Hugo macht weitere sechs, sieben Schritte. Dieses Mal bleibt vor einem Kellerlokal stehen, das mit Neonlichtern gepolstert ist. Dort befindet sich der islamische Verein für interkulturellen Dialog „Muabet“. Jeden Tag gehen da unzählige Jugendliche rein, die alle Trikots des türkischen Fußballvereins „Fenerbahce“ anhaben.
Vielleicht fragt sich Herr Hugo mit wem sie wohl dort ein „interkulturellen Dialog“ führen. Noch weitere sechs, sieben Schritte. Er erreicht den Haydn-Park. Ob Herr Hugo ein Haydn-Fan ist? Herr Hugo setzt sich nicht im Haydn-Park. Er bleibt kurz vor Haydns Grabstein stehen. "Ich werde nicht ganz sterben", steht darauf. Auf Latein und Herr Hugo kann kein Latein. Er zieht weiter. Herr Hugo fühlt sich noch am Leben, er ist noch nicht ganz tot. Er macht methodisch und sicher seine weiteren sechs, sieben Schritte...
Noch eine kleine Bemühung und er hat sein Ziel erreicht. Er ist beim Gürtel. Diese Reise von ein paar Hundert Meter hat Herr Hugo eine Stunde und zehn Minuten gekostet. Die größte Wiener Verkehrs-Arterie verläuft gleich hinter dem Altersheim und trägt auf ihrem Rücken die hektischen Wiener. Herr Hugo hat dem Park seinen Rücken gekehrt und beobachtet die Straße. Die Straße, die ihre unaufhaltsamen Runden dreht.
Herr Hugo findet einen Platz in der Sonne. Vor seinen Augen strömen die Autos. Ich weiß nicht warum, aber ich denke, dass Herr Hugo mal ein Automechaniker war. Vielleicht, weil er sich jeden Tag drei Stunden lang die Autos am Gürtel anschaut In seinem Kopf sind die Autos viel mehr - die Autos von den letzten Jahrzehnten. Sowjetische LKWs ZIS 5, amerikanische Packards, deutsche Opel und japanische Mazdas... Er sieht die Fußgänger und die Radfahrer nicht. Sie wissen auch nichts von seiner Existenz. Ich weiß nicht, ob jemand außer mir sich für Herr Hugo interessiert. Vielleicht soll ich ihn irgendwann ansprechen um zu erfahren, wie er tatsächlich heißt. Das Leben fließt am Gürtel...
Gegen 14 Uhr macht sich Herr Hugo auf dem Rückweg. Eins – zwei – drei- vier- fünf- sechs- sieben. Pause. Eins – zwei – drei- vier- fünf- sechs- sieben. Pause. In einer Stunde hat er den Altersheim erreicht. In meinem Kopf läutet der Beatles Song: One, two, three, four, five, six, seven, All good children go to heaven...