Erstellt am: 8. 4. 2014 - 14:37 Uhr
VfGH muss nun zu Vorratsdaten urteilen
Das heutige Urteil des EuGH, in dem die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt wurde, ist nach Ansicht der beteiligten Anwälte als historisch anzusehen. "Meines Wissens wurde noch nie eine EU-Richtlinie in ihrer Gänze rückwirkend für ungültig erklärt" sagte der Wiener Anwalt Gerald Otto zu ORF.at.
Otto vertritt mit dem Kläger Michael Seitlinger eine der vier klagenden Parteien, die einen in diesem Ausmaß nicht zu erwartenden Erfolg eingefahren haben. Das EuGH-Urteil geht nämlich klar über die vorab veröffentlichte Rechtsmeinung des EuGH-Generalanwalts hinaus. Derselben Ansicht wie sein Kollege ist auch Rechtsanwalt Ewald Scheucher, der mehr als 11.000 Österreicher vertritt, die ebenfalls geklagt haben: "Bis jetzt wurden immer nur einzelne Teile, aber nie ganze Richtlinien gekippt."
Der VfGH wird mit großer Wahrscheinlichkeit nun als erster nationaler Verfassungsgerichtshof in Europa ein diesbezügliches Urteil fällen, denn der Spruch des EuGH beruht auf einem sogenannten "Vorlageantrag" des VfGH. Der hatte vor seinem Urteil darüber, ob die österreichische Vorratsdatenspeicherung gegen Grundrechte verstoße, den EuGH angerufen, da das österreichische Gesetz ja auf der EU-Richtlinie beruht.
Aktuell dazu in ORF.at
Die Kritik des EuGH fiel dabei unerwartet heftig aus, praktisch in allen beanstandeten Punkten wurde die Richtlinie für EU-rechtswidrig erklärt. Demnach sei die Verpflichtung zur VDS ein Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die Grundrechte des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten.
"Herzstück im TKG ungültig"
Nach Scheuchers Rechtsmeinung müsste der österreichische VfGH nach diesem Urteil auch das "Herzstück der Richtlinienumsetzung im österreichischen TKG, den Paragrafen 102 a, b, und c für ungültig erklären". Dieser regle Verpflichtung, Verwendung und Sicherheit der erhobenen Daten, die Basis dafür aber sei die EU-Richtlinie, so Scheucher, deren fehlende Präzision in genau diesen Punkten vom EuGH fundamental kritisiert werde.
Damit würden die entsprechenden Paragrafen im Sicherheitspolizeigesetz, der Strafprozessordnung und allen andern Gesetzen natürlich mitgerissen. Scheucher bezieht sich dabei auf die Randziffer 54 des EuGH-Urteils, die "präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung (...) vorsehen und Mindestanforderungen aufstellen". Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert wurden, "müssten über ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz ihrer personenbezogenen Daten vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang (...) und jeder unberechtigten Nutzung ermöglichen", heißt es da.
Anmerkung
Die im Text erwähnten Randziffern sind einfach die durchnummerierten Abschnitte des EuGH-Spruchs.
Das EuGH-Urteil im Volltext(malte-spitz.de
Keine Beschränkungen oder Ausnahmen
Der Spruch des EuGH steht der Richtlinie - aber auch einer ganzen Reihe von weiteren Randziffern - äußerst kritisch gegenüber, vor allem was fehlende Einschränkungen betrifft. Die Richtlinie führe "zu einem Eingriff in die Grundrechte fast der gesamten europäischen Bevölkerung" und erstrecke sich auf "sämtliche Verkehrsdaten ohne irgendeine Differenzierung" (57). Sie gelte also "auch für Personen, bei denen keinerlei Anhaltspunkt dafür besteht, dass ihr Verhalten in einem (...) Zusammenhang mit schweren Straftaten stehen könnte" .
Zudem seien keinerlei Ausnahmen für Personen, "deren Kommunikationsvorgänge nach den nationalen Rechtsvorschriften dem Berufsgeheimnis unterliegen", vorgesehen. Anwälte, Ärzte, Notare, Journalisten und andere Berufsgeheimnisträger hatten in Österreich vergeblich Ausnahmeregeln von der Speicherpflicht eingemahnt.
In dieser vernichtenden Tonart geht es auch in den folgenden Randziffern des EuGH-Spruchs weiter, so kritisiert der EuGH etwa, dass kein "Zusammenhang zwischen den Daten, deren Vorratsspeicherung vorgesehen ist, und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit erforderlich" sei, dazu komme zum Beispiel auch das Fehlen von Einschränkungen geografischer Natur.
Totalität kennt keine Ausnahmen
Mit diesem Spruch wird der gesamte technische Ansatz der Vorratsdatenspeicherung infrage gestellt, den man nur als totalitär bezeichnen kann. Von der Datensammlungsmethode her kann es also keine "Lightversion" der bestehenden Vorratsdatenspeicherung geben, deren Wesenselement ja ist, dass alle Daten auf "Vorrat" gespeichert werden.
Alleine die Umsetzung der EuGH-Forderung nach Ausnahmen für Berufsgeheimnisträger bei der Erfassung der Daten hätte ein technisch aberwitziges Szenario zur Folge: Telekoms und Internetprovider müssten vollständige Listen aller österreichischen Berufsgeheimnisträger führen, was bereits ein Widerspruch in sich ist. Die Daten dieser Ärzte, Anwälte usw. müssten dann aus dem gesamten Wust der da dauerhaft gespeichert werden soll, vorab herausgefiltert werden.
Zeitgeschichte der Vorratsdatenspeicherung in 30 FM4-Stories von 2010 bis heute
Die Listen müssten zudem stets tagesaktuell gehalten werden, wenn etwa eine Anwaltskanzlei neue Mobiltelefone und Internetzugänge anmeldet. Die Provider wiederum hätten eine weitere Datenbank mit sensiblen, personenbezogenen Daten zu verwalten und wären für die Sicherheit der Datenbank regresspflichtig.
Das "Quick Freeze"-Verfahren
Mehr oder weniger dasselbe Szenario trifft im Grunde auf jede andere EuGH-Forderung nach Einschränkungen zu. Ein Ansatz, dessen Wesenselement technische Totalerfassung und Einschränkungen erst dann vorsieht, wenn Zugriffsforderungen durch die Behörden erfolgen, lässt sich nicht nachbessern, ohne den Ansatz selbst auf den Kopf zu stellen.
Für Otto bedingt die Vielzahl der vom EuGH auferlegten Beschränkungen eine grundlegende Veränderung der Herangehensweise. "Meiner Ansicht nach läuft dies in Konsequenz auf eine Variante des 'Quick Freeze'-Verfahrens hinaus", sagte Otto. Dieses Verfahren wurde schon mehrmals diskutiert, aber stets von den Mehrheiten im Ministerrat verworfen.
Auch der allererste Vorschlag der EU-Kommission vor gut zehn Jahren schlug diese Art von Datenspeicherung vor. Anders als bei der nun verworfenen Vorratsdatenspeicherung ist "Quick Freeze" ein auf Anlässe bezogenes Verfahren, die Anordnung zur Speicherung von Daten erfolgt nämlich erst nach dem Vorliegen einer Straftat.
Wie "Quick Freeze" funktioniert
Die lange Geschichte der Vorratsdatenspeicherung in 96 FuZo-Stories von 2004 bis 2010
Wie aber lassen sich Daten nachträglich speichern, wenn es keine Vorratsdatenspeicherung mehr gibt? Die Antwort ist wieder technischer Natur: Mobilfunkbetreiber und Internetanbieter verfügen über diese Datensätze eine bestimmte Zeit. Zum einen werden sie aus rein technischen Gründen noch eine Zeit lang im System behalten, sie sind in Zwischenspeichern und auf Back-ups noch für unterschiedlich lange Zeiträume vorhanden. Die Eckdaten werden im Durchschnitt etwa drei Monate bei den Providern aufbewahrt. Der Grund sind mögliche Kundenreklamationen, bei denen es zumeist um die Rechnungslegung geht.
Der "Quick Freeze"-Ansatz sieht nun vor, dass bei konkreten Ermittlungen in einem Strafverfahren Gerichte solche "Einfrier"-Anordnungen erlassen können. Je nach Inhalt der Anordnung werden dann nur die geforderten Datensätze im System "eingefroren", die Metadaten aller weiteren aktuellen Kommunikationen, die darunter fallen, werden ebenfalls gespeichert. Alle anderen Datensätze aber bleiben von dieser Maßnahmen unbehelligt und verschwinden nach einer gewissen Zeit aus den Systemen von Internetprovidern und Mobilfunkern.
Rechtliche Spuren des NSA-Skandals
Zu der von Anwalt Scheucher thematisierten, nicht garantierten Sicherheit der auf Vorrat gespeicherten Daten habe der EuGH noch eine weitere Randziffer hinzugefügt, deren Bedeutung keineswegs zu unterschätzen sei, sagte Rechtsanwalt Otto. In Randziffer 68 werde vom EuGH insbesondere kritisiert, dass die EU-Richtlinie keine Speicherung dieser Vorratsdaten im Unionsgebiet vorsehe, so Otto weiter. Hier habe die NSA-Spionageaffäre deutliche Spuren in der europäischen Rechtsprechung hinterlassen, denn "zeitlich hat das ja wunderbar zusammengepasst".
Für den möglichen Ausgang des VfGH-Verfahrens zeigten sich beide Anwälte naturgemäß recht optimistisch, zumal die Klagen wegen Verletzungen der Grundrechte nicht mehr mit Verweis auf EU-Recht abgewiegelt werden könnten. Das Fazit Ottos: "Das war ganz großes Kino." Scheucher nannte das Urteil "einen österreichischen Beitrag zur Freiheit in Europa, was bisher doch recht selten war." Noch anzumerken ist, dass beide Anwälte diesen langwierigen Fall "pro bono" bearbeitet haben, weil sie ihre Tätigkeit in dieser Beziehung als Bürgerpflicht betrachten.