Erstellt am: 8. 4. 2014 - 07:52 Uhr
Radfahren für Arme?
Ich fahre auf zwei Rädern auf einer vierspurigen Straße. Hinter mir hupen ungeduldig PKW und überfüllte Kleinbusse und als mich von links mit lautem Rattern ein Truck schneidet, schlängeln sich rechts noch zwei Motorräder vorbei. Luft anhalten, Blicke über die Schulter und weiter treten. In meinem Rücken verpufft eine Abgaswolke.
Willkommen in Bogotá - wo die Bordsteinkanten so hoch sind wie Kleinkinder und die Schlaglöcher so tief wie der Wechselkurs des kolumbianischen Pesos.
Mike Ceaser
Radtour für Unerschrockene
- Bogotá Bike Tours arbeitet mit lokalen Initiativen zusammen.
Ich bin zum Glück nicht allein auf der Straße, sondern in Begleitung von Mike Ceaser. Der Journalist und Rad-Aktivist aus Kalifornien hat sich auf jahrelangen Reisen eine ausführliche Südamerika-Expertise angeeignet und lebt bereits seit neun Jahren in der Hauptstadt Kolumbiens. Hier hat er Bogotá Bike Tours gegründet - eine Radtour für Unerschrockene, die über versteckte Marktplätze, das Rotlichtviertel und politische Graffitiwände auf Pfade abseits des Sightseeing-Mainstreams führt.
Verena Krenn
Mike Ceaser führt auch zwei Blogs:
- Einen über das Fahrradfahren in Bogotá und
- einen über die Stadt Bogotá.
In beiden widmet er sich stark der politischen Graffitiszene.
Verena Krenn
Mike Ceaser
In Europa sterben durch die durch Feinstaub verursachte Luftverschmutzung jährlich 400.000 Menschen.
"Den Autofahrern fehlt einfach der Respekt", sagt Ceaser im Interview. "Sie würden niemals für dich stehen bleiben. Die Straßen sind permanent verstopft, die Luftverschmutzung ist unerträglich und auf den Radwegen liegen Obdachlose und Müll im Weg. Außerdem sind sie oft veraltet, nicht gut beschildert oder enden einfach im Nichts", erzählt er weiter und bestätigt damit gängige Klischees über die Verkehrssituation von Mexiko City bis Buenos Aires.
Ciclorutas statt Begegnungszonen
Doch Moment, Radwege? ¡Claro, que sí! In puncto nichtmotorisierter Mobilität gilt Bogotá nämlich trotz aller Abhängigkeit vom Auto als Pionier.
In den 1990er- und 2000er-Jahren hat unter den Bürgermeistern Enrique Peñalosa und dem in jeder Hinsicht unkonventionellen Antanas Mockus der Ausbau des städtischen Radwegnetzes begonnen. Zudem wurden hier ohne Weiteres Maßnahmen getroffen, die in Wien erst vor kurzem fast zu einem "Bezirksbürgerkrieg" geführt hätten. Denn in La Candelaria, dem historischen Zentrum Bogotás, ist der Autoverkehr schon seit langem mehr als nur "beruhigt".
Barbara Köppel
Ein Abschnitt der Carrera Séptima, die von Norden nach Süden durch Bogotá verläuft, ist hier komplett für PKW gesperrt. Es gibt weder Begegnungszonen noch Parkplätze, dafür einen deutlich gekennzeichneten Radweg in beide Richtungen und öffentliche Busse dürfen zwischen 6 Uhr abends und 8 Uhr früh zufahren. Untertags teilen sich hier FußgängerInnen und RadfahrerInnen die Straße - und das völlig reibungslos.
Bogotá hat ein funktionierendes City-Bike-System, eine nicht unbeträchtliche Kraftstoffbesteuerung und seit 1998 ist das sogenannte Pico-y-placa-Gesetz in Kraft. Pico y placa, was mit "Verkehrsspitze und Kennzeichen" übersetzt werden kann, verbietet es, private wie öffentliche Kraftfahrzeuge an jeweils zwei Tagen in der Woche in Betrieb zu nehmen. Die Aufteilung richtet sich dabei nach der letzten Ziffer des Kennzeichens und einer jährlichen Rotation. Endet mein Nummernschild also z.B. mit 5, darf ich am Montag und am Mittwoch nicht fahren und im nächsten Jahr nicht am Dienstag oder am Donnerstag.
Auch der autofreie Tag hat in Bogotá jahrzehntelange Tradition und der temporäre Bürgermeister Rafael Pardo spielt sogar mit dem Gedanken, eine City-Maut für Zonen mit besonders hohem Verkehrsaufkommen einzuführen. So sollen Staus reduziert und das heillos überlastete öffentliche Bussystem TransMilenio gefördert werden. Außerdem gibt es FahrradpolizistInnen und Helmtragen ist Pflicht.
Ciclovía
Während die Ciclovía in Südamerika schon lange Tradition hat, wird hierzulande noch für autofreie Sonntage gekämpft. Die Plattform "Autofreie Stadt" bringt heute eine entsprechende Petition beim Wiener Gemeinderat ein.
Wenn man dann noch in eine der seit 1976 stattfindenden Ciclovías gerät, kommt man sich tatsächlich fast wie im Fahrradschlaraffenland vor.
Mike Ceaser
Jeden Sonn- und Feiertag werden in Bogotá und vielen anderen südamerikanischen Städten hunderte Straßenkilometer für den Autoverkehr gesperrt und stattdessen für RadfahrerInnen, InlineskaterInnen und FußgängerInnen freigegeben. So eine Ciclovía wird meist als buntes Straßenfest mit Marktständen und gratis Tanz- und Fitness-Stunden begangen und mit einer Selbstverständlichkeit und Leidenschaft gefeiert, gegen die sich unsere Critical Mass als schüchterne Kindergartenparty ausnimmt.
Radfahren ist noch immer etwas für Arme
Wie kommt es dann, dass eine Stadt, die so fortschrittliche verkehrspolitische Ansätze hat, derart in Abgasen versinkt?
Wien bringt es bei einer Fläche von 415 km² auf 1.246 Kilometer Radwege, Bogotá bei einer Fläche von 1587 km² nur auf 376 Kilometer.
Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens, so Mike Ceaser, haben die politischen Impulse und Investitionen nachgelassen, wodurch der ehemalige Fahrradvorreiter Bogotá weit zurückgefallen ist und andere südamerikanische Metropolen längst aufgeholt haben - in Buenos Aires z.B. ist der Radverkehr dank eines völlig kostenlosen City-Bike-Systems stark im Kommen.
Der zweite und weitaus komplexere Grund ist, dass die kolumbianische Gesellschaft nach wie vor von sehr großen Klassenunterschieden geprägt ist und das Auto vielleicht noch mehr als anderswo als Statussymbol gilt.
"Radfahren ist in Bogotá etwas für arme Leute, die sich das Geld für den Bus sparen wollen. Die Reichen und die Mittelklasse wollen in Autos gesehen werden, selbst wenn sie dafür stundenlang im Stau stecken", sagt Ceaser. "Das geht manchmal sogar so weit, dass diejenigen, die es sich leisten können, dass Pico-y-placa-Gesetz umgehen, und sich einfach einen Zweitwagen kaufen, um wieder jeden Tag fahren zu können."
Der gesundheitliche und umweltpolitische Aspekt des Radfahrens spielt daher für die Bogotanos kaum eine Rolle und wird nur am Rande von kleinen sozialen Bewegungen ins Treffen geführt.
Ein fundamentaler Mentalitätswandel wird in Kolumbien also noch eine Zeit lang brauchen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die aufgezählten verkehrspolitischen Maßnahmen allerdings umso bemerkenswerter. Wien, das sich ja gerne als fortschrittlich und fahrradfreundlich gibt, könnte sich davon noch einiges abschauen.