Erstellt am: 6. 4. 2014 - 11:09 Uhr
Auf das Warum gibt es keine Antwort
Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug des ruandischen Präsidenten kurz vor der Landung von Raketen abgeschossen. Der bis heute nicht geklärte Anschlag gilt als Startsignal für den drei Monate andauernden Genozid, dem fast eine Million Tutsis und gemäßigte Hutus zum Opfer gefallen ist. Eine wesentliche Rolle in der Tötungspropaganda hat die Radiostation RTLM gespielt, die mit einer Mischung aus Hasstiraden, launigen Quizshows und Popmusik den Völkermord angestachelt hat.
RTLM war nur ein Jahr on air, von Juli 1993 bis Juli 1994. RTLM bedeutet Radio Télévision Libre des Mille Collines (Mille Collines, also tausend Hügel ist ein Synonym für Ruanda). Ein Jahr lang haben die Stimmen der ruandischen Journalistin Valérie Bemeriki, des Moderators Habima Kantano, des Belgiers Georges Ruggiu (der intellektuelle Quotenweiße am Sender) und des DJ Joseph den ethischen Konflikt zwischen Hutus und Tutsis auf den Hügeln Ruandas geschürt. Ab dem Ausbruch des Genozids am 6. April 1994 kam es zu unmissverständlich formulierten Aufforderungen an die Hörerschaft, sich aktiv an den Tötungen zu beteiligen. Interaktive Phone-Ins, launige Quizsendungen (Welche Persönlichkeit hat den Satz gesagt "Kein Hutu weicht zurück"?), zynische Sprichworte ("Wenn man furzt, soll es wenigstens richtig stinken"), internationaler und Afro-Pop inklusive. Die Bezeichnung Tutsi war durch das Wort Kakerlake ersetzt worden und diese, so der Aufruf, sollten vollständig ausgelöscht werden. Wenn der Meinungsäußerung keine Schranken mehr gesetzt sind, bekommt das Wort frei im Namen einer Radiostation einen schalen Beigeschmack.
Daniel Seiffert
Anfang 2006 wurde der Schweizer Regisseur Milo Rau von einem deutschen Stadttheater gefragt, ob er irgendwas über Afrika machen wolle. Rau hatte gerade das Buch "Wir möchten ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden" über den ruandischen Völkermord gelesen und begann sofort ein Theaterstück zu schreiben.
Mit irgendwas ist einem Genozid aber nicht beizukommen. Einem Genozid, bei dem pro Tag 10.000 Menschen niedergemetzelt wurden, einem Genozid, bei dem es gelungen ist, die Erzählung im wahrsten Sinne des Wortes mundtot zu machen. Milo Rau hat den Vertrag mit dem Theater nach einem halben Jahr gelöst, er wusste nicht, wie er "der absoluten Unfassbarkeit des ruandischen Genozids" gerecht werden sollte. Anfang 2010 hat er sich der Aufgabe erneut gestellt, im Oktober 2011 fand die Uraufführung von "Hate Radio" statt.
Daniel Seiffert
Das Sendestudio von RTLM wurde nach Angaben der mittlerweile verurteilten und in Kigali inhaftierten Radiomoderatorin Valérie Bemeriki originalgetreu wieder aufgebaut. Für einen Theaterabend ging es wieder on air, mit Überlebenden des Genozids als SchauspielerInnen. Nun gibt es auch ein Buch, einen Film und ein Radiofeature zu "Hate Radio".
Sie habe sich die Filme über den Genozid in Ruanda nie anschauen wollen, sagt Nancy Nkusi, die Valérie Bemeriki spielt, in einem Interview im Buch. "Ich hatte immer das Gefühl, die Leute würden mit dem Unglück anderer Menschen Geld machen. Dass ich jetzt keine Ruanderin spiele, die gelitten hat, weil ich eine Ruanderin bin, die gelitten hat, ist für mich ein Glückstreffer."
Daniel Seiffert
Das Buch: "Hate Radio", erschienen im Verbrecher Verlag 2014
Der Film "Hate Radio" auf SRF:
- Sonntag, 6. April 2014, 11:55 Uhr, SRF 1
- Montag, 7. April 2014, 1:00 Uhr, SRF info
- Dienstag, 8. April 2014, 12:55 Uhr, SRF info
- Samstag, 12. April 2014, 9:40 Uhr, SRF 1
In seinem Text "Die verwöhnten Kinder der Dritten Welt" spricht der Schauspieler Dorcy Rugamba (er spielte in den ersten Aufführungen Habima Kantano) von seiner Zeit als Student in Kigali vor dem Genozid, von studentischen Banden, Feuertaufen und Hierarchien und beschreibt eine karnevaleske Stimmung, in der Äußerungen wie "Wir werden alle Tutsis ausrotten" kaum Beachtung geschenkt wurden. Neben Interviews, Recherchematerial und dem Stücktext finden sich im Buch auch Texte über die Rolle der Medien und das Wesen der Sprache des Genozids.
Der Genozid selbst bleibt unfassbar. Es ist unmöglich, zu begreifen, wie junge Menschen (die meisten Täter waren zwischen 15 und 30 Jahre alt) es als ihre "Arbeit" begreifen können, sich in Todesschwadronen zu sammeln, um mit Macheten bewaffnet ihre Nachbarn niederzumetzeln und nach getaner "Arbeit" Bier zu trinken. Was soll man sagen über die Leichen in den Flüssen, auf den Straßen, in den Kirchen, mit denen - und damit wird das fatale Ergebnis dieses Genozids begreiflich - keine Geschichte zu erzählen ist. "Hate Radio" kann darüber auch keine Auskunft geben. Aber es macht auf schauerliche Weise bewusst, welch zerstörerisches Potential Worte haben können, wenn sie zu Parolen werden.