Erstellt am: 5. 4. 2014 - 20:06 Uhr
Der mythische Magier
Ein pittoresker Western mit Bezügen zum Christentum, Zen-Buddhismus und zur schwarzen Magie. Ein Grundkurs in Philosophie in Cowboyhüten und Sombreros. Ein Splatterspektakel für die friedensbewegte Hippieära. Eine absurde Freakshow voller amputierter Revolverhelden und sexuell besessener Banditen. Ein bitterböser Drogentrip von einem Film, der aber auch mit lustigen Facetten nicht geizt.
Kein Wunder, dass viele Besucher völlig fassungslos waren, als „El Topo“ anno 1970 zunächst in einem kleinen New Yorker Programmkino angelaufen ist. Gleichzeitig entstand schnell ein weltweiter Kult rund um das bizarre Werk des Regisseurs, Autors und Hauptdarstellers Alejandro Jodorowsky. Eine eingefleischte Anhängerschar, zu der auch John Lennon, Yoko Ono und Dennis Hopper gehörten, versuchte den in Mexiko gedrehten Film akribisch zu enträtseln.
Bildstörung
Mit Dalí und Buñuel im Wilden Westen
Dabei lässt sich „El Topo“ auch über ein Vierteljahrhundert später nicht einfach dechiffrieren oder gar einordnen. Inspiriert von opernhaften Italowestern und den blutigen Streifen eines Sam Peckinpah ebenso wie von Salvador Dalí und Luis Buñuel, schuf Alejandro Jodorowsky ein wahnwitziges, surreales Kompendium, das die Genrekino-Umhüllung bald abstreift.
Die Geschichte eines bärtigen Desperados im schwarzen Ledergewand wird schnell zu einer religiösen Allegorie und letztlich einer mystischen Erlöserfantasie. Dabei kamen und kommen aber auch schlichte Exploitationfans auf ihre Kosten, denn der monomanische Künstler Jodorowsky spickt sein Epos mit reichlichen Sex- und Gewalteinlagen, Mensch und auch Tier werden, verwandt dem Orgien-Mysterien-Theater des Hermann Nitsch, nicht geschont.
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Mit Artaud und Brecht auf dem Heiligen Berg
Ähnlich grenzüberschreitend ging der in Chile geborene Sohn jüdisch-ukrainischer Eltern auch an seine wenigen anderen Arbeiten heran. Alejandro Jodorowsky, der im Paris der 50er Jahre noch die verblassenden Einflüsse der surrealistischen Ära aufsaugte, mit den anarchischen Geistesgenossen Fernando Arrabal und Roland Topor das „Panic Movement“ gründete, lässt Denk- und Lebenswelten kollidieren.
Okkultismus, Buddhismus und Science-Fiction-Zitate blitzen in „Montana Sacra“ (1973) neben unzähligen anderen philosophischen Schulen auf, verbinden sich zu einem wahnwitzigen filmischem Rausch, einer blasphemischen Gottsuche. einem Theater der Grausamkeit, frei nach Antonin Artaud. Am Ende wird dann auch noch Bert Brecht zitiert, denn Jodorowsky entlarvt seine entfesselte Sinnsuche als artifizielle Inszenierung.
Weil es außergewöhnlich schwierig ist, für orgiastische Visionen zwischen spiritueller Bewusstseinserweiterung, sexueller Befreiung, politischer Rebellion und psychedelischer Musik das nötige Geld aufzutreiben, tobt sich das Multitalent Jodorowsky auch auf der Theaterbühne aus, verfasst gefeierte Comicbände (zusammen mit dem Zeichner Moebius) oder unterrichtet Psychomagie und Tarot.
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Mit Orson Welles und Mick Jagger im Weltall
Vor allem um ein legendäres, niemals realisiertes Großprojekt des Regierebellen trauert die Cineastenwelt: 1975 stürzte sich Jodorowsky in die Vorproduktion, um Frank Herberts Sci-Fi-Klassiker „Der Wüstenplanet“ auf die Leinwand zu bringen. Zehn Stunden lang sollte der Film sein, Orson Welles, Salvador Dalí, Mick Jagger und Gloria Swanson zu den Klängen von Pink Floyd und der französischen Experimentalgruppe Magma als Darsteller vereinen, das alles in der Ausstattung der Schweizer Künstlers H. R. Giger stammen.
Als die Finanziers abspringen, scheitern die Pläne aber, die Rechteinhaber wechseln, David Lynch übernimmt die Regie und erleidet bei „Dune“ den größten künstlerischen Absturz seiner Karriere. Alejandro Jodorowsky feiert erst 1989 mit dem Arthouse-Schocker „Santa Sangre“ ein Regiecomeback, dem man auch den Einfluss des italienischen Giallo-Gurus Dario Argento ansieht, dessen Bruder produzierte.
Sony Pictures Classic
Mit Hermann Nitsch auf der Hippie-Orgie
Weitere Jodorowsky-Filme wie „The Rainbow Thief“ (1990) und zuletzt die autobiografische Familiengeschichte „La danza de la realidad“ (2013) werden praktisch nur auf Festivals, unter Ausschluß einer breiteren Öffentlichkeit, gezeigt. Die mythische Verehrung, die der in Paris lebende und schon 85-jährige Chilene aber genießt, ist ungebrochen.
Die Schlüsselstreifen „Fando & Lis“, „El Topo“ und „Montana Sacra“ von Alejandro Jodorowsky sind für kurze Zeit im Wiener Filmcasino zu sehen und auch als aufwändige Bluray/DVD-Box bei „Bildstörung“ erschienen.
Wer Jodorowskys Schlüsselfilme mit heutigen Augen sieht, wird vielleicht ob der unfreiwilligen Komik gewisser Sequenzen schmunzeln. Oder über dem Übermaß an esoterischem Hippiekitsch die Augen verdrehen. Die unzähligen Tabubrüche, die sich durchziehen, der aktionistischen Schlachtfeste und Tieropfer, der Einsatz von Schwerbehinderten und sozialen Außenseiter, die Verehrung für Kriminalität und Devianz verstören aber noch viel mehr als zu ihrer Entstehungsära. Heute, in relativ gesitteten und gelackten Kinozeiten, mutet die Durchgeknalltheit von Alejandro Jodorowsky wie ein offener Aufruf zur Rebellion an.
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