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Erich Möchel

Netzpolitik, Datenschutz - und Spaß am Gerät.

3. 4. 2014 - 16:27

EU-Parlament stimmt für Netzneutralität

Den Ausschlag gaben die Liberalen im EU-Parlament, die diesmal mit Sozialdemokraten und Grünen gegen die größte Fraktion EVP stimmten.

Im EU-Parlament wurde heute die neue Verordnung zum Telekom-Binnenmarkt abgestimmt. Das Plenum entschied sich gegen die Empfehlungen der EU-Kommission, die "Verkehrsregeln" auf dem europäischen Markt grundlegend zu ändern.

Eine Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen stimmte für die Beibehaltung der sogenannten Netzneutralität, das ist die technische Gleichbehandlung des Datenverkehrs auf der Transportebene. Die europäischen Telekoms hatten bis zuletzt versucht, dieses grundlegende Funktionsprinzip des Internetverkehrs zu kippen. Eine endgültige Entscheidung ist das zwar nicht, denn nun ist der Ministerrat am Zug, der hier ebenfalls zustimmen muss. Hier ist noch beträchtlicher Widerstand zu erwarten, denn der Anstoß für diese Novellierung kam aus dem Rat.

Schlüsselrolle der Liberalen

Das Abstimmungsergebnis sieht mit 534 Pro- und gerade einmal zwei Dutzend Gegenstimmen zum gesamten Paket zwar eindeutig aus, tatsächlich war die Entscheidung wesentlich knapper. Die relativ wenigen umstrittenen Abschnitte des Entwurfs wurden nämlich einzeln und gesondert abgestimmt.

Anders als etwa im Nationalrat und anderen nationalen Parlamenten üblich, stimmte das Gros der unterlegenen Fraktion EVP nach den einzeln abgestimmten, kontroversiellen Passagen dem gesamten Entwurf dennoch zu. Auch die Linke, die eigene, teils weitergehende Änderungsvorschläge vorgelegt hatte, stimmte großteils mit zu, wie der nun für die Piraten kandidierende Martin Ehrenhauser sowie andere fraktionslose MEPs wie Hans Peter Martin, Andreas Mölzer (FPÖ) oder Ewald Stadler (nun REKOS).

Update 00.20 4. April

Das offizielle Protokoll zur Abstimmung umfasst 232 Seiten. Die österreichische Initiative für Netzfreiheit ist dabei, das genaue Stimmverhalten der österreichischen MEPS aufzuarbeiten.

Eine Schlüsselrolle bei der Entscheidung spielte die liberale Fraktion (ALDE), denn nach dem alten Links-Rechts-Schema - hier Wirtschaft, dort Arbeitnehmer - ist dieses Ergebnis nicht wirklich festzumachen. Während bei Sozialdemokraten und Grünen der Konsumentenschutz gegen Ungleichbehandlung eher den Ausschlag gab, hatten die Liberalen andere Gründe.

"Spezialisierte Dienste"

Gerade die vielen kleinen und mittleren, europäischen Unternehmen aus dem Bereich der Internetservices gehörten von Anfang an zu den vehementesten Kritikern der geplanten Regelung, die ausschließlich den Forderungen der Telekoms folgte. Die Befürchtung war und ist, dass diese europäischen KMUs bei der Auseinandersetzung zwischen den Unternehmensriesen aus den USA und Europa unter die Räder kommen würden.

Ganz konkret befürchtet wurde, dass die im Kommissionsentwurf fehlende, genaue Definition "spezialisierter Dienste", die bevorzugt ausgeliefert werden dürften, dazu führen würde, dass nur noch Großunternehmen in der Lage sein würden, neue Services anzubieten. Gerade im Bereich Videostreaming steht und fällt ein möglicher Erfolg mit der grundsätzlichen Gleichbehandlung aller Services. Wird ein bestimmter Dienst dabei priorisiert, werden Anbieter, die diese zusätzlichen Gebühren nicht aufbringen können, unweigerlich aus dem Markt gedrängt.

Die Kontroverse um den rasch wachsenden Streamingdienst Netflix in den USA ist mit der Debatte um Netzneutralität in Europa nicht direkt vergleichbar. Dort liefern sich die großen Internet-Zugangsprovider wie Comcast oder AT&T vielmehr ein Match gegen reine Datencarrier, die diese Netze der verschiedenen Zugangsprovider verbinden.

Manöver der Kommission

Das Ergebnis war die Quittung für die Manöver der Kommission, die ihren langjährigen Kurs in diesem Punkt entscheidend geändert hatte. Besonders auffällig war dabei der Sinneswandel der zuständigen Kommissarin Neelie Kroes, die bis zu diesem Verordnungsentwurf stets öffentlich für dieses Prinzip der Datengleichbehandlung eingetreten war. Damit wurde bisher das Wettbewerbsprinzip bei Internetservices gesichert.

Diese Richtungsänderung in der Kommission hat handfeste ökonomische Gründe, deshalb hatten auch die europäischen Telekoms auf eine Veränderung zu ihren Gunsten gedrängt. Das Geschäft mit Internetservices ist wesentlich profitabler als reine Zugangsangebote, also versuchte man von europäischer Seite zuletzt, mit gesetzgeberischen Mitteln zu erreichen, was auf dem Markt bis dato überhaupt nicht gelungen war.

Protektionismus

Von Google abwärts dominieren US-Unternehmen seit jeher diesen Markt und fahren dementsprechende Gewinne ein, während die europäischen Anbieter von Internetzugängen - also die Telekoms - hier de facto keine Rolle spielen. Mit Netflix und anderen Streaming-Diensten für Videos zeichnete sich hier noch eine deutliche Verschärfung ab, denn hochauflösende Videos jagen das Verkehrsvolumen radikal nach oben. Zu Spitzenzeiten macht der Verkehr von Netflix bis zu einem Drittel des Datenvolumens in den USA aus.

Paradoxerweise hätte die Abschaffung des Prinzips der Gleichbehandlung auf der Transportebene die bestehende Vorherrschaft der Serviceprovider aus den USA noch gefestigt. Damit wären nämlich auch in Europa solch exklusive Deals möglich geworden, wie sie Facebook und Google zusammen mit lokalen Telekoms bereits in Entwicklungsländern anbieten.

Das ist der Grund warum Kommission, Ministerrat und ein Teil der Abgeordneten hier die Regeln ändern wollten, damit aber wurde das Funktionsprinzip des Internets in Frage gestellt. Es war purer Protektionismus, zu dem man sich seitens der EVP-Fraktion nicht eindeutig bekennen konnte, zumal ja die gesamte Europäische Union auf dem Prinzip des grenzüberschreitenden Wettbewerbs basiert.

Schwammige Definitionen

Das Resultat waren schwammige Definitionen genau jener ausschlaggebenden Abschnitte dieser Verordnung, nämlich die Möglichkeit, sogenannte "spezialisierte Dienste" bevorzugt zu behandeln. Dargestellt wurde das quasi als "Rettungsgasse" bei "Internetstaus", die von invasiven Streamingservices aus den USA verursacht werden. Diese Argumentation war allein schon deshalb wenig glaubwürdig, weil sie an den Gegebenheiten vorbeigeht.

Während die Deutsche Telekom in Europa führend bei der Forderung nach "spezialisierten Diensten" war, hatte sich die Branchenlobby "Computer and Communications Industry Association" (CCIA) für Netzneutralität ausgesprochen. In diesem von Internetunternehmen dominierten Gremium sind neben Google, Facebook und Microsoft auch T-Mobile und die britische Telekom vertreten.

Markige Warnungen vor drohendem "Piratenchaos" bei fehlenden "Verkehrsregeln" wie sie etwa einer der auffälligsten Fürsprecher des Protektionismus, der österreichische EVP-Abgeordnete Paul Rübig, zuletzt geäußert hatte, nützten so eher der Gegenseite. Dass Kommissarin Neelie Kroes vor der Abstimmung über diese Telekomnovelle auch noch als Instrument im Kampf gegen "Kinderpornografie" ins Feld geführt hatte, wurde dann bereits als Zeichen der Verzweiflung interpretiert. Kroes bezog sich dabei offensichtlich auf eine Wortmeldung einer britischen Sozialdemokratin aus der Plenardebatte vom Vortag.

Das ist eine der Besonderheiten des EU-Parlaments. Sowohl zehn Sozialdemokraten aus Großbritannien wie etwa 30 Abgeordnete der Konservativen hatten in Teilbereichen gegen die Fraktionslinie gestimmt.

Das geplante Kompensationsgeschäft

Seitens der Konservativen war der Ablauf völlig anders geplant gewesen. Statt "Netzneutralität" hätte eigentlich "Roaming" heute die Schlagzeilen bestimmen sollen, sieht doch die Neuregelung, die in den meisten Punkten wenig bis kaum umstritten war, eine deutliche Senkung der Roaminggebühren bis hin zu ihrer Abschaffung vor.

Darum ging es nämlich bei diesem im Ministerrat ausgehandelten Deal, der nicht zufällig mit den Wahlen zum EU-Parlament zusammenfällt: Als Kompensation für die entfallenden Roaminggebühren sollten die Anbieter von Internetservices von den Telekoms zur Kasse gebeten werden.

Die europäische Regulationsbehörde BEREC, die dem Vorhaben zur Abschaffung der Netzneutralität kritisch gegenübersteht, hatte offenbar mit einem anderen Ergebnis gerechnet. Bereits Mitte März wurde eine öffentliche Konsultation mit dem Titel "Qualität der Internetzugänge im Kontext der Netzneutralität" gestartet, die noch bis 28. April läuft.