Erstellt am: 30. 3. 2014 - 11:06 Uhr
Disco, erwachsen aus dem Geist der Avantgarde
Dieser Text erschien ursprünglich in "Die Presse am Sonntag".
Allwöchentlich küren Thomas Kramar (Die Presse) und Philipp L'heritier (FM4) einen gemeinsamen Song zum Sonntag /Song der Woche. Diesmal haben beide zum 5. Jubiläum der Presse am Sonntag einen jeweils eigenen "Song des Lebens" ausgewählt und im Medium des jeweils anderen darüber geschrieben.
- Thomas Kramars über "Radioactive" von Tom Pettings Hertzattacken
Disco für Außenseiter, von einem Außenseiter: Der 1951 geborene Arthur Russell war in den späten 70ern und 80ern in diversen Musik-Biotopen von Downtown New York gut vernetzt, übte sich jedoch lieber als Eigenbrötler im heimischen Kämmerlein. Zu Lebzeiten wurde ihm kaum Ruhm zuteil, notorisch war seine Unfähigkeit, seine Kompositionen zu Ende zu bringen: Mit höchster Akribie feilte er ewige Zeiten an ihnen – um sie schließlich doch bloß als halbfertige Skizzen in der Schublade verstauben zu lassen .
1992 verstarb Russell an den Folgen von Aids, bis dahin hatte er wenige Singles und ein – höchst experimentelles und schwieriges – Album veröffentlicht. Berühmt sollte er erst gut zehn Jahre nach seinem Tod werden, als liebevoll kuratierte Compilations sein Werk einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machten. Im Zuge des neu erstarkten Interesses an Postpunk und No Wave an der Kippe der 70er hinüber in die 80er wuchs die Begeisterung für Russell als Mann, der Disco-Musik für Menschen produzierte, die sonst damit nichts am Hut haben: verbogene, aus der Form gefallene Disco.
Arthur Russell
Russell war in Avantgarde und Minimal Music versiert, bewegte sich fließend in den Gewässern von kaugummifarbenem New Wave und streifte immer wieder den Dancefloor. Am besten aber war er, wenn diese Welten auf unerhörte Weise zusammenfanden.
Viele Stücke Russells sind ewige beste Lieder, "A Little Lost" beispielsweise, oder der Disco-Klassiker "Is it all over my face?" Am wahnwitzigsten aber ist die frühe Nummer "Kiss Me Again" aus dem Jahr 1978, die unter dem Projektnamen Dinosaur entstand. Der angesehene DJ Nicky Siano wird zwar in den Produktionscredits gelistet, hatte bei der Entstehung des Stücks jedoch eher beratende Funktion – und war, als es endlich, endlich fertig wurde, bevorzugt mit der Pflege seiner Drogensucht beschäftigt.
Die Zügel in der Hand hatte Russell. "Kiss Me Again" ist eines der Stücke, über das er der Legende nach dank seiner Detailbesessenheit mehr als nur einmal die Kontrolle verloren haben soll: Eine kleine Armee an Session-Musikern wurde ins Studio geholt, darunter zwei Drummer und zwei Bassisten gleichzeitig, David Byrne von den Talking Heads an der Gitarre. Ewig wurde gebastelt, gejammt, neu gejammt, gemischt, kleinteilig herumarrangiert.
Herausgekommen ist ein gut 13-minütiges Stück Irrsinn, das viele Qualitäten hat. "Kiss Me Again" atmet perfekt den Geist einer Zeit und einer Stadt, einer glorreichen Blase, in der sich die Ausläufer von Punk und Disco die Hände reichten und absurde Allianzen schmiedeten. Als funky und arty neue Schnittmengen bildeten. Arthur Russel lässt Sängerin Myriam Valle scheinbar banale Zeilen über Liebesabbruch und Herzschmerz singen, zugleich schwingen Konnotationen zu nicht mehr ganz jugendfreien Themen wie sexueller Abhängigkeit und lederbekleideter S/M-Faszination mit.
"Kiss Me Again" ist ein bis in Letzte konstruiertes Meisterwerk, gleichzeitig vibriert es mühelos und entspannt und läuft immer wieder aus dem Ruder. Eigentlich ist das Stück auch viel zu lang. Was ihm aber eine mantrahafte Aura verleiht, die die DNA vieler späterer Techno-Tracks vorwegnimmt. Es gibt auch Überraschungen: Eines der erfrischendsten Piano-Motive ever etwa, oder ein trauriges Cello, gespielt von Arthur Russell selbst. Selten wurde die Einsamkeit des Disco-Tänzers so umwerfend vertont. Kontrollwahn, Lockerheit, Melancholie, Ekstase.