Erstellt am: 30. 3. 2014 - 11:05 Uhr
Song fürs Leben
Darf ich auf die Aufgabe, einen "Song fürs Leben" vorzustellen, ausnahmsweise ganz persönlich, mit einer Art Erlebniserzählung antworten?
Danke.
Allwöchentlich küren Thomas Kramar (Die Presse) und Philipp L'heritier (FM4) einen gemeinsamen Song zum Sonntag /Song der Woche. Diesmal haben beide zum 5. Jubiläum der Presse am Sonntag einen jeweils eigenen "Song des Lebens" ausgewählt und im Medium des jeweils anderen darüber geschrieben.
- Philipp L'heritier über "Kiss Me Again" von Dinosaur (Arthur Russell & Nicky Siano) -
Zuerst wollte ich ja ganz uncool und gar nicht FM4-mäßig einen Song auswählen, den wirklich jeder kennt, "Like A Rolling Stone", "Good Vibrations", "Satisfaction", "Heroes" oder so was. Jetzt ist es ganz im Gegenteil ein Song geworden, der bis heute nicht auf Tonträger erhältlich ist, der mich trotzdem verfolgt hat, seit ich ihn das erste Mal gehört habe, das war 1981 im Amerlinghaus, glaube ich. Ich war damals wieder einmal drauf und dran, dem Freejazz zu verfallen, dieses Konzert von Tom Pettings Hertzattacken hat mich davor bewahrt.
Das schlagendste Argument dieser Band war Geschwindigkeit, pure kinetische Energie, Knappheit, Verdichtung, kurz: all das, was mich bis heute an Pop am meisten fasziniert. Die Songs rasten einem schier davon, und jeder zweite enthielt das Schlüsselwort Radio: "Radio Heart", "Radiation", "Radio Radio" und eben "Radioactive", der schnellste, intensivste von allen, von Beginn an. Der sich paradoxerweise dennoch steigerte: von der durch eine wunderbar schlichte Synthesizermelodie getragenen Strophe zum Refrain, den als "explosiv" zu beschreiben eine Untertreibung wäre.
Dazwischen war einen halben Herzschlag Pause. Den Text hab ich dann später in einer Zeitschrift gelesen, kann sein im Falter, kann sein in einer Zeitschrift namens Etc.: "Your love is like a microwave, burns like a heart-attack, your love cuts lika a phillishave, it takes my breath away, your eyes shine like a TV set, that makes me fantasize about chemical romances I never realized..."
Eine Sturzflut an Metaphern, die mir alle perfekt schienen - ähnlich wie die (wiewohl völlig andersartige) Metaphernflut in Bob Dylans überlebensgroßen "Sad-Eyed Lady Of The Lowlands". Gut, fürs Fernsehen hatte ich nichts übrig und für Elektrorasierer auch nicht, aber Chemie hab ich dann ein Jahr später studiert. Und ich hab jeder Frau, die mich interessiert hat, "Radioactive" vorgespielt, sozusagen um zu prüfen, ob ihr dieses Liebeslied nicht zu schnell und wild ist. Bei Live-Konzerten war das bald nicht mehr möglich: Die Hertzattacken, denen ein Jahr später ein Ö3-Hit mit "Bis zum Himalaya" beschieden war, nahmen "Radioactive" wie (fast) alle anderen Songs aus ihrer wilden frühen Phase zu meinem Leidwesen schnell aus ihrem Programm.
Zum Glück hatte ich es, zusammen mit ein paar anderen klassischen Hertzattacken-Songs wie "Sexual Addict", auf einer Musikkassette, die allerdings spätestens nach der Jahrtausendwende nicht mehr anzuhören war. Erst vor ein paar Jahren fand ich den Song dann wieder auf YouTube. Er klingt natürlich so modern, dass es schon retro ist (oder umgekehrt), hat aber seine Intensität nicht verloren, und die zweite und dritte Strophe verstehe ich noch immer nicht, von "Sunset Boulevard" ist u.a. die Rede, vielleicht sollte ich dort einmal hinfahren. Oder lieber doch nicht: Pop ist schließlich auch eine Kunst der Illusion.