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Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

29. 3. 2014 - 14:58

Das Warten auf den großen Rettich

Die Türkei steht vor den Regionalwahlen am Sonntag unter Hochspannung.

"Wo bleibt der Porno?? Ihr habt uns einen Porno versprochen!!", schreibt Kürset Hoca, einer der berühmten türkischen Trolle auf Twitter. Kürset Hoca hatte - wie so viele andere User - die Twitter-Sperre umgangen und die ganze Nacht auf den sogenannten "großen Rettich" gewartet, der für den 25. März angekündigt war.

Anonyme Twitter-Accounts, Journalisten und Politiker hatten tagelang die Erwartungen der Regierungs-Gegner mit Andeutungen in die Höhe getrieben. Nur ein paar Tage vor den Lokalwahlen sollte dieser "große Rettich" auftauchen und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zum Rücktritt zwingen.

Erdogan

APA/EPA/TOLGA BOZOGLU

Tagelang wurde wild spekuliert, wie denn dieser Rettich ausschauen könnte. Ein Sex-Tape des konservativen Politikers? Geheime Details über die Verhandlungen zwischen der Regierung und der kurdischen PKK? Würde die Türkei etwa Gebiete an Kurdistan abtreten? Dann kam der 25. März, aber der "große Rettich" tauchte nicht auf. Die Accounts, die seit dem Beginn der Korruptionsaffäre beinahe täglich neue, die Regierung in nicht gerade gutem Licht dastehen lassende Tonband-Mitschnitte lieferten, enttäuschten ihre Follower. "Was wartet ihr noch auf einen großen Rettich. Was wir bisher veröffentlicht haben ist doch genug!", hieß es dort.

Kassettenkrieg statt Wahlkampf

Der 25. März, der Tag des "großen Rettichs", war der Höhepunkt eines heftigen Wahlkampfs, in der belastende Mitschnitte und Korruptionsermittlungen eine größere Rolle spielten als Parteiprogramme und Wahlversprechen. Jede Nacht tauchten neue Mitschnitte auf, in denen Politiker der regierenden AKP über Korruptionsgelder in Milliardenhöhe reden sollen. Bei einer Aufnahme war der ehemalige EU-Minister Egemen Bagis zu hören, der im sarkastischen Ton über den Islam reden soll. "Jeden Freitag suche ich über Google ein paar Zeilen aus dem Koran und poste sie dann auf Twitter", erzählt Bagis da angeblich einem Journalisten der oppositionellen Tageszeitung Hurriyet.

Erdogan und seine Partei vermuten hinter den Ermittlungen und den Mitschnitten eine Verschwörung der religiösen Gülen-Bewegung. An der Spitze dieser Gruppe steht der einflussreiche Prediger Fettullah Gülen. Er wanderte 1999 nach Pennsylvania aus. Kurz danach tauchten im türkischen Fernsehen Aufnahmen von ihm auf, in denen er seinen Unterstützern befehlen soll, den türkischen Staat zu unterwandern und Schlüsselpositionen zu besetzen. In der Türkei und weltweit hat er Millionen Anhänger. Eine Reihe an türkischen Konzernen, Banken, Medienorganen und privaten Bildungseinrichtungen stehen seiner Bewegung nahe. Außerdem sollen zahlreiche Polizisten, Staatsanwälte, Richter und andere Bürokraten, also durchaus mächtige Personen, der Gülen-Gruppe angehören. Genau diese Leute in Justiz und Polizei würden hinter den Leaks und Ermittlungen gegen ihn und seine Regierung stecken, so Erdogan. Die Gülenisten sollen einen Parallel-Staat aufgebaut haben und gegen die türkische Regierung arbeiten.

Fethullah Gülen

CC-BY-SA 2.0 / Diyar Design

CC BY 2.0 - Fethullah Gülen

Der Konflikt eskaliert

In den letzten Jahren entstand zwischen der Gülen-Gruppe und der AKP ein Konflikt rund um die Lösung des Kurdenproblems. Als bekannt wurde, dass die Regierung in Oslo mit der PKK einen Waffenstillstand aushandelt, versuchten Staatsanwälte den Chef des türkischen Geheimdienstes zu verhören und zu verhaften. Der Vorfall ging als die "Krise des 7. Februars" in die türkische Geschichte ein und viele glaubten, dass die verantwortlichen Staatsanwälte der Gülen-Gruppe angehören könnten.

Denn die Gülen-Bewegung ist in ihrer poltischen Linie nationalistisch und stark anti-kommunistisch ausgerichet. Die kurdische PKK hingegen kämpft für ein unabhängiges sozialistisches Kurdistan. Deshalb sollen die Gülenisten ihre ganze Macht eingesetzt haben, um die Verhandlungen mit der PKK zu unterbinden. Sie befürchten, wie andere nationalistische Gruppen, dass die Regierung den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei Autonomie gewähren könnte. In den letzten Jahren hatte die Regierung unter anderem Kurdisch legalisiert. Bei einer Rede in der kurdischen Stadt Diyarbakir im Südosten der Türkei sprach Erdogan als erster türkischer Ministerpräsident von "Kurdistan".

Richtig eskaliert ist der Konflikt, als die AKP-Regierung ankündigte, die Nachhilfeschulen zu schließen. In der Türkei gehen beinahe alle Schüler auf solche private Nachhilfeschulen, um sich für die Uni-Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Die Gülen-Gruppe ist in diesem Sektor der größte Anbieter. Die Bewegung finanziert sich zum Teil aus ihren tausenden privaten Schulen und gewinnt dort ihren Nachwuchs.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Der Wahlkampf stand ganz im Schatten des Konflikts zwischen Gülenisten und der AKP. Insbesondere Gülen-nahe Twitter-Accounts und Medien verbreiteten die belastenden Leaks. Deshalb sieht ein Großteil der AKP-Wählerschaft selbst über drastische Maßnahmen wie Twitter- und YouTube-Sperren hinweg, die sie als vorübergehendes Abwehrmittel gegen den angeblichen Putschversuch durch Gülenisten betrachten. Die internationale Kritik durch USA und EU wird von ihnen als Einmischung von Außen betrachtet und verstärkt für viele AKP-Anhänger den Eindruck, dass es eine internationale Verschwörung gegen die Regierung gibt.

Twitter-App vor der Türkeifahne

APA/EPA/Karl-Josef Hildenbrand

Die AKP stand in diesem Wahlkampf zwar stark unter Druck, trotzdem konnten die kemalistisch-nationalistischen Oppositionsparteien keine überzeugenden politischen Argumente und Lösungen liefern. Viele AKP-Wähler befürchten, dass bei einer möglichen Koalitionsregierung der Kemalisten und Nationalisten das Land instabiler werden und der Friedensprozess mit den Kurden in Gefahr geraten könnte. Die Türkei hat also nicht nur eine Regierungskrise, sondern eine ernste Oppositionskrise. Solange sich die Opposition nicht erneuert, wird auch eine angeschlagene AKP weiterhin große Unterstützung genießen. Der "große Rettich" allein, den die Regierungsgegner geradezu wie einen Messias erwarten, wird sie nicht "erlösen" können.

Egal wie die Regionalwahlen am Sonntag ausgehen, der wirkliche Wahlkampf wird erst danach anfangen. Denn diesen Sommer wird zum ersten Mal in der türkischen Geschichte der Präsident direkt vom Volk gewählt. Wenn die AKP die Präsidentschaftswahlen gewinnt, kann sie ihre Macht weiter ausbauen. Ein Präsident aus der Opposition könnte jedoch mit den Befugnissen die Macht der AKP-Regierung trotz ihrer absoluten Mehrheit stark beschneiden.