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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

26. 3. 2014 - 16:45

Heldinnen für mehr als einen Tag

Dichtes, atmosphärisches Erzählen treibt Angelika Reitzers Geschichten voran. Ihr neuer Roman "Wir Erben" will am Stück gelesen werden.

Angelika Reitzers neuer Roman "Wir Erben" ist eine Familiensaga mit nur einer Hauptfigur. Ist die österreichische Autorin für ihre genaues Verfassen (man will fast sagen: Erfassen) von weiblichen Charakteren bekannt, so dreht sie mit ihrem neuen Buch ihre Kunst nochmal einen Level höher.

Das Cover zu "Wir Erben" von Angelika Reitzer zeigt Zeichnungen von Fasanen

Jung und Jung

Auch super: Das ungewöhnliche und schöne Format des Buchs mit 14,5 mal 18,5 Zentimeter. Erschienen ist „Wir Erben“ von Angelika Reitzer im Verlag Jung und Jung, 2014.

Die Biografie der Hauptfigur Marianne verweist auf Großeltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Marokko auswanderten und mit ihren Töchtern im Kleinkindalter in ein niederösterreichisches Dorf zurückkehrten. Die Kinder, die nur den Sommer kannten, haben Schwierigkeiten, mit ihren Eltern klarzukommen, die zurück in Österreich wie verwandelt erscheinen. Vielleicht ist das ein Grund, warum Mariannes Mutter noch als Erwachsene Abschiede regelrecht kultiviert.

Sie wollte ein Jahr in zwölf verschiedenen Ländern verbringen, die erste Station war Lissabon, dann sollte es weitergehen nach Argentinien. Ja, sie hatte Geld geerbt, aber wäre das nicht eine Altersvorsorge? Niemand sollte sich sorgen, sie hatte alles im Griff.

Ausgerechnet eine Rastlose ist also Teil einer Familie, die eine Baumschule führt. Und so übergeht eine Generation die Verantwortung und Marianne übernimmt die Geschäfte allmählich von der Großmutter, die Mariannes eigentliche Bezugsperson als Kind war und an deren Sterbetag Marianne mit Alltag beschäftigt ist. Wie so oft. Männer, die sich längere Zeit an den Seiten dieser Frauen der Lex-Familie bewähren, sind Liebhaber, nie Lebenspartner.

Soweit die Ausgangsposition. Das Geschehen findet keinen Halt, die Zeiten wechseln in „Wir Erben“ wie Gedanken. Wunderbar zieht die Aufmerksamkeit von einer Person zur nächsten, führen Rückblicke das Geschehen zu einer vollkommenen Geschichte. Viele Personen tauchen in diesem alten Herrschaftshaus der Lex auf, in dem zuletzt nur Marianne wohnt.

Autorin Angelika Reitzer lächelt

Peter Köllerer

Fühlen und sich artikulieren

Wie Angelika Reitzer von Verlusten schreibt, ist in jedem Satz glaubwürdig. Dennoch ist "Wir Erben" kein deprimierendes Buch, im Gegenteil. Diese Frauen sind keine traurigen Gestalten, die nichts mit sich anzufangen wissen. "Wir Erben" feiert den Alltag und jene kleinen Momente, in denen sich für einen Menschen Großes ereignet.

So läuft an einem Sonntagabend gerade ein "Tatort", als der Liebhaber anruft und ein gemeinsames Leben plötzlich regelrecht einfordert. "Nach dem Abspann kam eine Diskussionssendung", lautet der erste Halbsatz nach diesem privaten Schock- wie Glücksmoment.

"Die großen Gefühle sind in den großen Momenten überhaupt nicht möglich. (...) Du brauchst nur an Abschied zu denken, nein, ich meine nicht meinen Exitus, da geht man einfach. Nachher glaubt man vielleicht, dass man's verhaut hat. Und überall sonst ist es ja ebenso. Schmerz, Liebe. Alles. Entweder Gefühl oder Artikulation. Deshalb stehen wir ja alle so auf Sex, also zumindest die halbwegs Gesunden. Schau nicht so verzweifelt."

Diesen Donnerstag wird Angelika Reitzer bei den Rauriser Literaturtagen lesen. Für die folgenden Lesungen kommt Reitzer u.a. nach Graz am 7. April 2014.

Diese kleine Brandrede hält eine weitere Frauenfigur. Angelika Reitzers Erzählen widerspricht ihr indirekt: Die gebürtige Grazerin versteht es, Gefühle zu vermitteln, und zu Tränen zu rühren.

Dass sich tatsächlich ein offenes Happy-End ausgeht, ist eine Zugabe. Denn Angelika Reitzer bringt noch eine weitere weibliche Hauptfigur mit deren ganzer Familie und DDR-Geschichte ins Spiel. Siri, die stets von Neuem anfängt. Sich auf diese zweite Person einzulassen, fällt nach all der Sympathie für Marianne schwer bis geht-gar-nicht. Siri hat so gut wie keine Chance, sich als Hauptfigur zu behaupten. Schließlich ist es ein geschickter dramaturgischer Schachzug der Autorin, dass sich ihre stillen Heldinnen im Finale begegnen.