Erstellt am: 4. 4. 2014 - 11:50 Uhr
Bob Marleys Graceland
I
Die "amerikanische Vorstadt", wie wir sie nannten, liegt an der Nordküste Jamaicas. Es ist ein langes schmales Band aus US-Hotelketten mit angeschlossenen Shopping-Malls, Golfplätzen und Clubs, das sich von Montego Bay bis nach Ochos Rios zieht und den Highway vom karibischen Meer trennt. Wir sind auch da. Runaway Bay. Erster Urlaub in einem Resort ever. Es ist zumindest in jamaikanischem Besitz, auf Familien mit Kleinstkindern spezialisiert und etwas bodenständiger. Perfekt für uns und den Einjährigen. Dass sich nur zwei Autostunden entfernt im Landesinneren das Grab Bob Marleys befindet, wussten wir nicht, bis wir den Flyer in der Hotellobby sahen.
bobmarley.com
II
Der Fahrer warnt uns vor den „wicked men“, die sich auf jedes Fahrzeug stürzen, das sich dem Bob-Marley-Mausoleum nähert. Er meint die Drogendealer, die den Touristen vorgedrehte Joints zur Einstimmung auf die spirituelle Reise andrehen. Doch noch ist es nicht soweit. Winston, so der Name unseres Chauffeurs, holt uns um neun Uhr morgens ab. Während der abenteuerlichen Fahrt durch die Berge (praktisch einspurig mit rasendem Gegenverkehr und Nullsichtkurven) erzählt er von den Bauxit-Minen, für die er jahrelang als Trucker unterwegs war. Der Bergbau habe seine Familie ernährt, so wie viele andere auch im Parish von Saint Ann. Die Minen waren neben dem Tourismus eine wichtige Stütze der regionalen Wirtschaft. Doch damit sei jetzt Schluss. Seit der Wirtschaftskrise kämen deutlich weniger Gäste und die meisten Minen hätten aufgrund der australischen und chinesischen Konkurrenz dicht gemacht. „No jobs and a lot of poverty“, sagt Winston. Nur noch selten würde er mit einer Fuhr ins Tal gurken. Wir passieren immer ärmlicher wirkende Menschen und Shanties. Die Berge hier sind wunderschön, ein wahres Paradies, doch überall zeugen die rotschmierigen Narben auch von Raubbau und Erosion. Nach zwei Stunden erreichen wir das Dörfchen Nine Miles.
III
Winston hatte recht. Bei der Einfahrt zum Bob-Marley-Compound werden wir von Dealern regelrecht belagert. Winston schaut böse. Die Dealer schauen böse. Manche klopfen aufs Dach und fluchen. Da öffnet sich ein Tor und wir verschwinden hinter den hohen Mauern. Ich kannte Nine Mile nur von der großartigen Kevin-Macdonald-Doku Marley (2012) und wusste, dass es sich bloß um ein kleines Anwesen handelt.
Hier erblickte Robert Nesta Marley am 6. Februar 1945 das Licht der Welt. Ein kleines Zweizimmerhäuschen diente ihm und seiner Mutter Cedella Marley Booker als Wohnstatt (der Vater ließ sich kaum blicken). Und hier, nur wenige Meter neben dem Geburtshaus, wurde Bob Marley nach seinem Krebstod 1981 auch beigesetzt.
IV
Die terrassenförmige Anlage besteht aus dem Originalgebäude sowie zwei Mausoleen. Eines für Bob und seinen Halbbruder Anthony Booker und eines für Cedella, die vor sechs Jahren das Zeitliche segnete. Und es besteht aus zahlreichen Souvenir Shops, Erfrischungsbuden, einem kleinen Museum mit goldenen Schallplatten und einem Restaurant mit Hanflikör im Angebot. Wir berappen die 15 Dollar Eintritt und warten auf den Guide.
Die Mehrzahl der Besucher wird in Bussen angekarrt. Sie kommen von der Partyhochburg Negril im Westen Jamaicas. Wussten wir anfangs noch nicht, was uns in Nine Miles erwarten würde – andächtiger Ort oder Rasta-Ballermann – so beantwortete sich die Frage bei Ansicht des bunten Haufens von selbst. Die brasilianischen Twentysomethings, die das größte Aufgebot unserer Gruppe stellten, waren schon gut eingetrunken und angeraucht – oder umgekehrt. Die Russen und Briten hielten auch ganz tapfer mit und die Deutschen pafften breit grinsend den Kräutertee, der ihnen am Eingang als göttliches Weed verkauft wurde.
V
Unser Guide, ein Rasta mit Boxernase, erzählt nur wenig aus dem Leben Marleys, hat es dafür aber mit deftigen Witzen, die sich abwechselnd um Ganja und Frauen drehen. Die Pointe verschluckt "Crazy" stets mit einem Löwengebrüll von Lacher. Nach einer Aufwärmphase müssen wir es ihm gleichtun, sonst geht's nicht weiter. Wir haben aber Glück: Die aufdringlich offenherzige Britin stiehlt viel von Crazys Aufmerksamkeit. Am Ende der Tour verhandeln die beiden gar nicht mal so unoffensichtlich einen Preis und tauschen Telefonnummern aus.
Die Deutschen haben einen eigenen Rasta-Reiseführer dabei. Er beherrscht die Landessprache perfekt, mit rheinischem Akzent, beharrt jedoch darauf, nie in Germany gewesen zu sein. Der Rasta erzählt, dass er nach dem ersten Spliff des Tages im Stande sei, Chinesisch zu sprechen und nach dem zweiten eben Deutsch. Als er das sagt, verzieht er keine Miene. „Papa, was ist eigentlich das Marihuana, von dem der die ganze Zeit redet?“, fragt ein Kleiner. „Das ist wie unser Schnaps, Kleener, man wird ganz kirre davon“, sagt der Papa. „Nein, das ist wie Medizin“, sagt darauf der Rasta. „Mit Schnaps bist du traurig fröhlich, mit Gras fröhlich fröhlich“. Da schaut der Papa böse. „Siehst du“, sagt darauf der Rasta zum Kleinen, „ich habe recht!“
VI
Vorbei an der teilnahmslosesten Reggae Band aller Zeiten und einem kleinen Parkour aus Trinkgelddosen geht es zum Geburtshaus Marleys. Die karge Einrichtung lässt erahnen, unter welch ärmlichen Bedingungen die Familie gelebt haben muss und unter welch ärmlichen Bedingungen die Menschen von Nine Miles noch immer leben. Ein altes Bett steht in der Ecke des Schlafzimmers. „Hier hat Bob Marley Liebe gemacht“, erzählt uns Mr. Crazy und zitiert aus dem Song „Is This Love“:
“I wanna love you and treat you right;
I wanna love you every day and every night:
We'll be together with a roof right over our heads;
We'll share the shelter of my single bed;
We'll share the same room, yeah! - for Jah provide the bread”
Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein muss, als Marley Ende der sechziger Jahre für einige Monate zurückkehrte, um mit seiner Frau Rita und ihrem Erstgeborenen hier zu leben. Mr. Crazy besteht darauf, dass sich alle Paare vor dem Bett küssend fotografieren lassen, weil das „befruchtende Wirkung“ habe. Dieses Mal entkommen wir ihm nicht. Sonst geht’s nicht weiter.
VII
Vor dem Wohnhaus ruht ein großer Stein im Boden. Es ist der sogenannte „Rock Pillow“. Marley bettete hier sein Haupt, um nach Inspiration zu suchen, so der Guide. Später werde ich nachlesen, dass die Songs „Jammin‘“ (1977) und „Iron Lion Zion“ (1973) Sprösslinge der Rock-Pillow-Listening-Sessions waren. Der Stein befindet sich am Mount Zion. Marley hatte die höchste Erhebung des Compounds nach dem Rastafari-Paradies benannt. Dort erhebt sich auch seine Grabesstätte. Wir sind angekommen.
VIII
Der Führer bittet uns, die Schuhe auszuziehen. „No pictures, no shoes. Respect, mon.“ Mr. Crazy schaut feierlich und ernst. Als auch der letzte bedödelte Brasilianer Crazys Mimik annimmt und für einen Moment andächtige Stille aufkommt, prustet der Rasta erneut los und reißt den nächsten dreckigen Witz. Reingefallen! Hahaha! Das Mausoleum wurde nach äthiopischem Vorbild gebaut, wird uns gesagt. Bob und sein Bruder liegen in einem wuchtigen Marmorsarg, der in Richtung Osten weist. Bob oben, der Bruder unten. Bob erhielt seine rote Gibson Les Paul als Grabbeigabe.
Wir werden rund um den Sarg geführt. Der Gang ist eng. Das Mausoleum ist mit zahlreichen Fan-Fotos, Blumen und Kerzen geschmückt. Räucherstäbchen und Notenblätter machen die Kapelle zu einer Pop-Gedenkstätte. Am Sockel liegt eine aufgeschlagene Bibel. Daneben eine Gravur mit Davidstern. Ob Marley Jude gewesen sei, fragt die Russin neben mir sichtbar irritiert. Als ich ihr erkläre, dass Haile Selassie seine Abstammung auf das Geschlecht Davids zurückgeführt hatte, fragt die Russin meine Frau: „Are you jewish, you look so jewish!“ Mr. Crazy kann sich kaum mehr halten vor Lachen. "Rastafari is all faiths".
IX
Zurück geht es durch insgesamt drei Souvenir-Shops. Am Eingang vom Klo steht ein Junge mit Besen. Als ich vorbei will, blickt er sich hastig um und bietet mir zitternd einen Vorgedrehten zum Kauf an. Lass dich mal bloß nicht erwischen Junge! Nach 45 Minuten ist die Tour auch schon wieder vorbei. Crazy blockiert den Ausgang und fuchtelt grinsend mit einer Trinkgelddose. Die Scheine fliegen nur so. Hier zu arbeiten zahlt sich aus. Der Durchschnittslohn in Jamaika beträgt 2.5 Dollar pro Stunde. Nur der deutsche Papa gibt nichts. Er hat seinen Privatrasta mit. Der muss schließlich auch noch bezahlt werden. Crazys Miene verfinstert sich, doch da kommt schon die fidele Britin anspaziert. Die Einnahmen des Mausoleums fließen direkt an die Nachkommen Marleys in Miami. Seine Mutter hat kurz vor ihrem Tod der Ortschaft eine Schule gestiftet. Alle Guides wollen Bob natürlich persönlich gekannt haben - auch die ganz jungen.
Draußen vor den Toren warten die Dealer. Auf der Rückfahrt wird wenig gesprochen. Es gibt wohl nicht mehr viel zu sagen. Winston liefert uns nach zwei Stunden Berg- und Talfahrt im Resort ab. Die amerikanische Vorstadt hat uns wieder. Graceland ist überall.