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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

22. 3. 2014 - 13:03

Aus dem Mikrokosmos erzählt

Experimentelles vermag noch immer zu verstören. Jugendliche ProtagonistInnen beeindrucken. Und die Diagonale 2014 ist derart gut besucht, dass Wartelisten angelegt werden.

Diagonale

Festival des österreichischen Films. Graz, 18.-23. März 2014

Tägliche Berichterstattung aus Graz im Diagonale Tagebuch auf fm4.orf.at und auf orf.at/diagonale

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Amüsant kann es werden, wenn man sich auf der Diagonale von KinobesucherInnen erzählen lässt, aus welchem Film sie gerade kommen. Am Besten wird es, wenn der Filmtitel erst mal verschwiegen wird, und großartig, wenn es sich um einen Film aus den innovativen Programmen handelt.

Bei Experimentalfilm muss man sich auf etwas einlassen. Umso mehr, wenn es sich um einen 79-Minüter handelt. Mit "A Masque of Madness" erschafft sich Norbert Pfaffenbichler seine ganz persönliche Figur von Boris Karloff, montiert 170 unterschiedliche Auftrtitte aus Film und Fernsehen. Farbe, Schwarz-Weiß, alles da und natürlich der Ton. Dennoch hatte manch ein Besucher nur Kopfschütteln dafür über.

Dabei lässt sich in den innovativen Programmen, in denen Filme von experimental bis einst Avantgarde und all jenes gezeigt wird, das sich nicht der Klassifizierung Spiel- oder Dokumentarfilm entzieht, so vieles lernen. Findet Sebastian Brameshuber, der gestern Österreichpremiere mit seinem zweiten Dokumentarfilm "Und in der Mitte, da sind wir" hatte.
Bei Experimentalfilm müsse man sehr genau arbeiten, und gerade Found-Footage-Filme funktionieren nach komplett anderen Prinzipien als traditionelle Filme.

Ein Mädchen fährt Autodrom und hat Nasenbluten

KGP Gabriele Kranzelbinder Production

Nun war es nicht Found Footage, das Sebastian Brameshuber für "Und in der Mitte, da sind wir" aufgegriffen hat. Es war eine Meldung aus dem oberösterreichischen Ebensee, die im Mai 2009 selbst durch die türkischen Medien ging: Während der 64. Gedenkfeier für Opfer des Nationalsozialismus anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Ebensee konfrontieren vermummte Burschen in einem Stollen Besucher mit "Sieg Heil"-Rufen und Hitlergruß. Und die Jugendlichen beschießen zwei Besucher mit einem Airsoft-Gewehr. Sebastian Brameshuber wollte wissen, was es mit diesem rechtsextremen Vorfall auf sich hatte.

Herausgekommen ist nach drei Jahren Arbeit "Und in der Mitte, da sind wir". Es ist ein bemerkenswertes Porträt von Jugend in der österreichischen Provinz und damit zugleich eine Spiegelung der Erwachsenen.

Filmstill aus "Und in der Mitte, da sind wir": Burschen spielen Paintball.

KGP Gabriele Kranzelbinder Production

Was geht da ab?

Ein Jahr hindurch hat der Regisseur mit Jugendlichen gedreht. Brameshuber hat die Jugendlichen befragt, doch vielmehr ließ er sich von ihnen ihre Welt zeigen. Ihr Alltag erzählt von gesellschaftspolitischen Zuständen in Österreich.

Ebensee, Bad Ischl und das YOUZ- von Christoph Weiß

Besonders sind die Kameraeinstellungen, die sich auf die jugendlichen Protagonisten konzentrieren. „Welche Bereiche wären jetzt für Sie interessant?“, fragt eine Frauenstimme aus dem Off. Man blickt in das erstaunte, pauswangige Bubengesicht des jugendlichen Andreas: „Musik. Wenn es da etwas gabert. Und Büchsenmacher.“ „Wie schaut es mit Ihren handwerklichen Fähigkeiten aus?“, will die Dame vom Arbeitsmarktservice weiter wissen.

Das Versprechen, doch alles werden zu können, schubst einen im neoliberalistischen Sinne auf einen selbst zurück. Die Eltern würden gerne mehr leisten, doch "willhaben.at gibt's bei uns net!" - "Bei uns gibt's immer willhaben.at, weil wir uns nur gebrauchte Sachen leisten können", kontert Andreas seinem Vater beim Stapeln von Holzscheiten.

Mit 15 ist ein Jahr eine Ewigkeit

Michi übt Tanzschritte. Romana will ihr eigenes Geld verdienen. Andreas spielt Paintball und Gitarre samt erspartem Marshall-Verstärker. Beim Jobschnuppern, beim Videospiele Spielen und am Paintballfeld wie auch im Geschichtsunterricht sowie nicht zuletzt mit ihren Eltern erlebt man drei Burschen und ein Mädchen. Mit 18 interessiert Romana ein Lippenpiercing nicht mehr, sie will es jetzt. Aus Michael "Jackson" wird ein Punk.

Bei all seiner Ernsthaftigkeit und vor allem dem Ernstnehmen der jugendlichen ProtagonistInnen, ist "Und in der Mitte, da sind wir" ein genaues Hinhören und ein genauer Blick auf einen Ort, der öfter mit der Vergangenheit konfrontiert wird, als ihm lieb ist.

"Ebensee ist ist ein Mikrokosmos, in dem man viele Dinge beobachten kann, die in Österreich sonst schwieriger zu beobachten sind, obwohl sie vorhanden sind", sagt der Regisseur Brameshuber. Busse mit TouristInnen fahren vor, um das ehemalige Konzentrationslager zu begehen, auf dessen Gelände unmittelbar auch Einfamilienhäuser stehen. Entstanden ist die Siedlung auf dem Straßen- und Kanalisationssystem des Konzentrationslagers.

Männliche Jugendliche in Tracht stehen in einer Unterführung

KGP Gabriele Kranzelbinder Production

Verhandlungen am Esstisch und in der Unterführung

"Crime Scene Küchentisch", nennt Sebastian Brameshuber die Konstellationen, die sich im privaten Umfeld rund um den Esstisch ergeben. Bereits für seine Diplomarbeit an der Universität für angewandte Kunst, Studium Bühnenbild, hat er Menschen nach der Vergangenheit befragt, seine Großmütter über die Zeit des Zweiten Weltkriegs interviewt.
Doch "Und in der Mitte, da sind wir" ist keine weitere mitgefilmte Oral History zur Nazizeit und auch keine Rekonstruktion der Ereignisse des Vorfalls vom Mai 2009.

"Und in der Mitte, da sind wir" kommt hoffentlich bald regulär in die heimischen Kinos.

Die jugendlichen ProtagonistInnen sind Freitagabend zur Premiere nach Graz gekommen. Wie sie beim Publikumsgespräch zu Filmemacher Sebastian Brameshuber aufgerückt sind, sprach Bände. Brameshuber hält es übrigens für Quatsch, dass Filmemacher mit Jugendlichen automatisch befreundet sein müssen, wenn sie gemeinsam ein Filmprojekt realisieren. Nichts uncooler als Anbiederung. Ob sie lieber an einem Ort leben würden, den Touristen wegen einer schönen Kathedrale aufsuchten als wegen eines Konzentrationslagers, war eine der Fragen an Romana und Michael, zwei der ProtagonistInnen. Was würde man darauf antworten?

Auszeichnungen

Heute Abend endet der Wettbewerb der Diagonale 2014 mit der Preisverleihung. Insgesamt etwa 165.000 Euro werden vergeben. Die Gewinnerfilme bester österreichischer Spiel- sowie Dokumentarfilm als auch aus dem Bereich innovatives Kino/Kurzfilm kann man Sonntagnachmittag in Grazer Kinos anschauen.

Ein Baby liegt in einer Trageschachtel

NGF-Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion

Filmen wie "Das Kind in der Schachtel" von Gloria Dürnberger wünscht man schon jetzt einen regulären Kinostart. So intim, so interessant und leider viel zu schnell ausverkauft war der Film auf der Diagonale 2014. Selbst für die Wartelisten gab es Anfragen um Nummern vorab.

Programmplan der Diagonale 2014. Schwarze Punkte markieren ausverkaufte Vorstellungen.

Radio FM4

Das ist wohl die schönste Auszeichnung für österreichischen Film: Er will gesehen werden.