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Robert Glashüttner

Videospielkultur, digital geprägte Lebenswelten.

15. 3. 2014 - 11:39

More input!

Die Leseapp "Spritz" will das Lesen hocheffizient gestalten. Damit müssen wir dann nicht mal mehr die Augen bewegen. Aber merken wir uns die Dinge auch besser, wenn wir unser Hirn mit 1000 Wörtern pro Sekunden bombardieren?

Ich bin ein langsamer Leser. Die Ursache dafür liegt in der naiven, aber in mir tief verankerten Annahme begründet, dass jeder Text ein in sich stimmiges Gebilde ist, wo mir jeder Satz wahlweise dazu dient, eine Stimmung bzw. ein Bild im Kopf intensiver zu gestalten oder eine Information bzw. einen Gedankengang weiterzugeben. Wenn ich dabei dann etwas nicht lese oder überlese, entgehen mir möglicherweise zentrale Inhalte.

Außerdem soll ein Text stilistisch und dramaturgisch ausgeklügelt sein. Querlesen und Überfliegen sind deshalb Dinge, die ich nie so wirklich gelernt habe und auch ungerne mache. Im Berufsalltag ist es natürlich unvermeidlich, aber beim privaten Lesen will ich nicht ständig über Texte Drüberhuschen müssen. Dementsprechend ungeduldig werde ich bei unnötig langwierigen Artikeln oder Romanen, die mich mit zu viel Nebenschauplätzen und Redundanzen konfrontieren, nicht schnell in ihren Bann ziehen und mich nicht richtig den Akt des Lesens vergessen lassen. Flow beim Lesen ist so eine Sache - durchschnittliche Texte und Unaufmersamkeit sind seine größten Feinde.

Hat beim Schnelllesen wenig Probleme: Nummer 5 in "Short Circuit"

Letztlich geht es beim Lesen um die Inhalte. Geschriebenes Wort kann am tiefsten und durchdringendsten komplexe Sacheverhalte und ausgeklügelte Geschichten darlegen. Wer viel liest, lernt und gibt dem Hirn ständig wichtiges, notwendiges Futter. Soweit, so klar und pädagogisch grundlegend. Schwieriger wird es dann, wenn es darum geht, wie wir die geschriebenen bzw. gelesenen Inhalte kognitiv verarbeiten. Begreifen wir sie? Merken wir sie uns? Können wir Querverbindungen herstellen und den jeweiligen Kontext richtig einordnen? Das Gelesene in anderen Situationen anwenden und mit unseren persönlichen Erfahrungen verbinden?

Lesen und Verstehen sind komplexe Lernprozesse, die Wiederholung, Reflexion und Abgleich notwendig machen - ansonsten ist das erlangte Wissen vage und flüchtig. Jemand, der schnell und viel liest, also im bürgerlichen Sinne "belesen" ist, muss das erlesene Wissen nicht zwingend gut einsetzen oder weitergeben können. Umgekehrt sind Wenigleser/innen nicht automatisch schwächer beim themenübergreifenden Denken und Bezüge herstellen. Niemand hat uns gelernt, wie man "richtig" liest. Was wir aber wissen: Lesen ist eine Tugend. Und Viellesen muss demzufolge noch viel besser sein. Deshalb wird das quantitative Lesen zur hohen Maxime - das ist innerhalb einer spätkapitalistischen Gesellschaft, die ohnehin stets darauf bedacht ist, zu maximieren und effizient zu arbeiten und zu leben, nur allzu passend.

Spritz mir Wörter in die Augen

Ein blauer Hintergrund, der ins Schwarze übergeht. In der Mitte steht das Wort "faster", das "s" ist rot, der Rest weiß.

Spritz

Nun ist die gewünschte Effizienzsteigerung beim Lesen nicht nur durch diverse Schnelllesetechniken erlernbar, sondern auch als App verfügbar. "Spritz" vom gleichnamigen Start-up hat in den letzten drei Jahren erforscht, dass wir 80% der Zeit beim Lesen damit verbringen würden, die Augen von einem Wort zum nächsten zu bewegen. Die kognitive Verarbeitung der geschriebenen Inhalte würde also nur ein Fünftel des Zeitaufwandes ausmachen. Ob das wirklich stimmt, sei dahingestellt, die Frage ist: Hilft Spritz als Lösung? Die Idee dahinter ist prinzipiell schlau und sehr medienwirksam: Statt Worte wie gewohnt gleichzeitig nebeneinander auszubreiten, blendet Spritz am selben Ort die Worte seriell ein. Die Augen müssen sich dementsprechend nicht mehr bewegen sondern verharren auf einem zentralen Punkt. Die Geschwindigkeit lässt sich von circa 200 bis 1000 Wörter pro Minute regulieren. Wo andere Schnelllesetechniken lange Übung voraussetzen, würde man die "Spritz"-Methode nach Aussage der dahinter stehenden Firma sehr schnell lernen.

Für bestimmte Situationen möglicherweise sinnvoll

Unabhängig davon, welche medialen und ästhetischen Auswirkungen es hätte, wenn "Spritzing" so populär würde, dass die Menschen ihre Zeitungen, Magazine, Bücher und Websites nur noch so lesen wollten, steht die Frage, mit welchem Interface die Spritzerei genau ablaufen soll. Hat man dabei dann einen kleinen Controller in der Hand, mit dem man vor und zurück spulen, den Text schneller und langsamer machen kann? Wie pausiert man? Ist Text in der gewohnten Flächendarstellung nicht kulturell und kognitiv so in uns verankert, dass uns eine serielle Darstellung nicht eher verwirren als helfen würde? Bleibt beim Wortspritzen überhaupt Zeit fürs Doppellesen eines Satzes, zum Nachdenken, abschweifen? Wie setzt man Lesezeichen? Ein Buch oder Ebook weglegen und später wieder hernehmen, könnte bei Spritz eine fummelige Angelegenheit werden.

"Spritz" ist derzeit für ausgewählte Android-Geräte verfügbar, eine weitere Verbreitung der App wird erst in den kommenden Wochen stattfinden.

Am besten wird sich die Lesetechnik wohl für den News-Alltag eignen - wenn es also darum geht, die aktuellen Meldungen des Tages zu bekommen, bei denen man sich meist ohnehin erst nachher entscheidet, welche Geschichte einen so interessiert, dass man mehr dazu lesen möchte. Ein Aufwachspritz nach dem Frühstück etwa, um mit dem aktuellen Stand der Welt den Tag zu beginnen, das würde für das oft etwas planlose, ständige Streben nach Effizienz beim Lesen einen sinnvollen Kontext bieten. Bis sich Spritz überhaupt mal so weit etabliert hat, dass wir über die besten Anwendungsfelder dafür nachdenken, testen wir die kommenden Wochen und Monate aber erst, ob das Ganze grundsätzlich zufriedenstellend funktioniert.