Erstellt am: 11. 3. 2014 - 16:47 Uhr
Nazi-Enkel im Diskurs
fm4.ORF.at/buch
Autorenporträts und Leseempfehlungen
„Roman einer Familie“ lautet der Untertitel des literarischen Debüts von Per Leo. Es ist die eigene Familiengeschichte, die der deutsche Historiker präzise durchforstet. Ein Roman als Abhandlung über deutsche Geschichte zwischen 1900 und der Gegenwart, Schiffswerften und auseinanderdriftende Weltanschauungen. Mit „Flut und Boden“ ist Per Leo für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, der am 13. März vergeben wird.
Im Mikrokosmos der Familie sucht und findet Per Leo den Markokosmos: Den Brüdern Martin und Friedrich Leo, die im ersten Weltkrieg Kinder waren, ist der Autor auf den Spuren.
Tatsächlich ist die Familie gar nicht so klein, die sich Per Leo für sein literarisches Romandebüt vorgenommen hat.
Und vorgenommen trifft es: „Zeit Lebens hatte mir mein Großvater kaum etwas bedeutet. Aber jetzt, als toter Sturmbannführer, wurde er ein treuer Begleiter, eine echte Stütze in der Not.“
Aufmerksamkeit hat dieser Erstling vor allem auf sich gezogen, weil der Roman eines der fünf nominierten Bücher für den Preis der Leipziger Buchmesse 2014 ist. Ist der Roman ein weiteres Buch, das sich um die Aufarbeitung eigener Familiengeschichte im Nationalsozialismus bemüht und bisher im Privaten Unausgesprochenes als fiktive Geschichte darstellt?
"The Making of a Nazi-Enkel"
Klett-Cotta
So hat Per Leo ein Kapitel überschrieben. Programmatisch für sein Erzählen, das eine Rekonstruktion von Geschichte, ein Nicht-Erinnern von überlieferten Erlebnissen und nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person ist. Durchdrungen von atmosphärisch schönen Erzählungen und spannenden Charakterstudien.
Mit dem Tod des Großvaters fiel die Aufmerksamkeit auf die Familiengeschichte, und plötzlich weiß der Enkel, Anfang Zwanzig, etwas anzufangen mit seinem eigenen Leben. So begründet der Erzähler sein Vorhaben, die Vergangenheit seines Großvaters auszuheben.
„Ich schrieb mich für Geschichte im Hauptfach ein. Der Studiengang nannte sich Neuere und Neueste Geschichte, meinetwegen hätte er auch heißen können: Grundlagenvertiefung für Nazienkel.“
Interessieren sich sonst nicht allzu viele für den jungen Studenten, so ändert sich dies schlagartig bei der bloßen Erwähnung der Tatsache, dass sein Großvater bei der SS war. Der Enkel will Großvaters Tätigkeit bei der SS erforschen, über die es heißt:
„Also nicht nur ohne Mangel sollte diese Gruppe sein, sondern auch von ‚nordischer‘ Art. Eine Zuchtgemeinschaft, in die nur gesunde Lurche, Erdkröten, Breitmaulfrösche und unter gewissen Bedingungen auch Stechmücken aufgenommen werden konnten, auf keinen Fall aber Waschbären oder Krokodile, und Wanzen schon gar nicht, seien sie auch noch so unausrottbar robust.“
Alexa Geisthövel
Die Rekonstruktion einer Geisteshaltung
Die Zucht und Autorität der Großväter, die den ersten Weltkrieg als Kinder erlebt haben. Das Aufleben in Gemeinschaften von den Pfadfindern hin zur Hitlerjugend. Das Streben des einen nach Berlin und hin zum Nationalsozialismus, die von den Nationalsozialisten angeordnete Zwangssterilisation des Anderen. Die Fortschreibungen in der Familie drängen sich auf. Klar will man wissen, was hat es nun mit dem Nazi auf sich? Wie sehr Nazi war der Sturmbannführer Friedrich, dessen Vater ein Gardejäger Bismarcks war und dessen Bruder Martin Schiffe und das Schreiben liebte?
Per Leo ist eigen, dass er nicht über den Dingen steht, doch über die reine Erzählung hinaus denkt und Verweise zieht und Verbindungen herstellt. "Meta, Meta, Content später!", möchte ich Gerlinde Lang zitieren, doch im Roman "Flut und Boden" fügen sich Zitate von Dokumenten und Exkurse.
Der 41-jährige Autor Per Leo hat Geschichte, Philosophie und russische Philologie studiert. Das sagt der Klappentext des Buches und dieses Wissen spiegelt sich auch auf jeder Seite. Verweise auf die deutsche Geistesgeschichte kann Per Leo einfach nicht sein lassen.
Da wird auch das Genre Bildungsroman abgehandelt – wohlwissend, dass Leos LeserInnen gerade selbst einen Bildungsroman in Händen halten. Alles will eingebettet werden, um die Geschichte der Figuren nachzuvollziehen. Ob man das kann? Ob das gelingt? Eigene Fragen und Zweifel setzt der Autor direkt in den Text. PhilologInnen werden mit diesem Buch viel Freude haben.
Es lohnt sich, sich auf dieses Vorhaben einzulassen. Denn Per Leo geht klug ins Gericht mit den Verwandten, der Vergangenheit und auch mit dem Blick der Gegenwart auf die Generation der Täter:
"Seine Glieder waren alt geworden, sie ließen sich nur noch schwer bewegen, aber immer atmeten sie eine gewaltige Kraft aus", heißt es über den Großvater, den SS-Mann, den "Erdaufwühler". In einer der besten Passagen beschreibt Per Leo punktgenau das Erstarren der Nachkommen vor den Männern des Dritten Reiches: "Es lag eine Erinnerung an Macht über ihm, eine verblasste Aura von Autorität. Nichts davon war mehr wirklich. Hinter seinem Rücken redete man über ihn". Und weiter: "Trotzdem verstummte alles Geschwätz, sobald er den Raum betrat, und alle Schwätzer gravitierten ergeben auf die fast unbewegliche Masse seines Körpers hin."
Derart treffende Beschreibungen sind nicht rar in "Flut und Boden. Gut also, dass ein Buch-Preis Aufmerksamkeit auf diese besondere Erzählhaltung gelenkt hat.