Erstellt am: 10. 3. 2014 - 19:30 Uhr
Das soziale Theater namens Popmusik
Kiepenheuer & Witsch
Diedrich Diederichsen war 13 Jahre alt, als er 1971 sein Pop-Initiationsritual erlebte. Der Rockgitarrist Johnny Winter „sprang auf die Bühne wie ein wildes Pferd“, schrie sich die Seele aus dem Leib und „katapultierte sich in eine heilige Hamburger Nacht“. Kurze Zeit später fühlte sich der Gymnasiast von den Krautrockern Cluster „verarscht“, doch da war es schon längst um ihn geschehen. Popmusik hatte das Tor zur Welt aufgestoßen und dabei nicht nur das jugendliche Ego mit dem Starkult versöhnt, sondern auch das Dagegensein und so letztlich Politik sexy gemacht.
Diederichsen mutierte bald darauf zu einem sogenannten Poplinken, süchtig nach den Versprechungen des Pop, aber auch nach den coolsten Theoriebausteinen aus aller Welt, mit denen er an einer neuen Sprache zwischen Euphorie und hyperkritischer Reflexion bastelte.
„Einfach so Rock ´n ´ Roll spielen? Gerade das ist das Allerschwierigste“, hieß es 1988 in einer typischen Rezension für „Spex“. Die Lage ist nach dem Siegeszug der Popkultur, zu der sich nun alte US-Präsidenten genauso bekennen wie junge Neonazis, sicher nicht einfacher geworden. Im Interview klingt das bei Diederichsen so:
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Diderichsens für den Leipziger Buchpreis nominiertes Hauptwerk zieht alle Register zwischen Hipster-Sophistication, freihändiger Pop-Philosophie und historischer Akribie. „Über Pop-Musik“ ist, in aller besserwisserischen Anmaßung quer durch die Wissensformen und in seiner dialektisch hochgezwirbelten Brillanz, so etwas wie die „Ästhetische Theorie“ der Popmusik geworden. Dafür werden Miley Cyrus oder Justin Bieber nicht einmal ignoriert.
Pop-Musik, notiert ausgerechnet der „Pop-Papst“ zur Verstörung von Supergitarristen und scheinbar im Einklang mit den Klassiksnobs, ist gar keine Musik im engen Sinn. Denn ihr musikalischer Ausgangspunkt war immer das verbrauchte und längst von der Avantgarde diskreditierte Material der Kulturindustrie. Popmusik lebt aber seit den 1950-er Jahren vor allem von dem, was an ihr nicht Musik ist: vom Nuscheln Bob Dylans, vom Krächzen Neil Youngs, vom Stöhnen der Diven und vom Grunzen des Death-Metals. Sie zehrt von intergalaktischen Studioeffekten und fetischisierten Geräuschen, von übersteuerten Anlagen und Maschinenexperimenten, von den Projektionen der Fans und vom sozialen Lärm in der Gesellschaft.
Popmusik stellt mit jedem neuen Auftritt in der Öffentlichkeit, und sei es nur als mysteriöser Filename im Laptop oder mit einem anonymisierten Albumcover, die Grundfrage nach dem Geheimnis des potentiellen oder tatsächlichen Stars: „Was sind das für Leute und was wollen die?“
Das Multimedia-Mitmachtheater stellt als kleinste Einheit nicht den Song oder den Track parat, sondern die Pose. In deren Lektüre sucht man als Fan nicht nur den Style, sondern auch etwas Ungeplantes, Echtes. Popmusik beginnt für Diederichsen daher nicht mit dem Nachsingen einer Melodie, sondern vor dem Spiegel – in der Einübung eines Looks oder eines Moves. „Und wie du wieder aussiehst“, singt die naseweise Fun-Artpunk-Band „Die Ärzte“: „Löcher in der Hose und ständig dieser Lärm!“
Die Maxi-Version zur ewigen Menschheitsfrage „Popmusik - woher kommst, was bist du und wohin willst du?“ samt einem ausführlichen Interview mit Diedrich Diederichsen gibt es noch diese Woche on demand „Im Sumpf“ nachzuhören. Sie klingt ungefähr so: „Der individuelle Exzess von früher ist lächerlich geworden, weil wir heute in einer Welt der Bernie Ecclestones leben. In dieser Welt zeigen nur mehr lächerliche Chefs ihre Penisse her. Selbst die alten Metal-Fantasien von Männern, die auf Schimmeln mit gigantischen Schwertern irgendwelche Horden enthaupten, gibt es nur noch in Computerspielen. Akuelle Metal-Spielarten bilden heute einen Hort der raunzigen, wortkargen und schlecht gelaunten Popmusik.“
Die Single „Diederichsen über Popmusik“ läuft Dienstag in der FM4 Homebase.