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Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

6. 3. 2014 - 14:58

Worst Case als Normalzustand

Auf einen Schock folgt der nächste - und das seit Monaten. Statt einen Neustart zu planen, müssen die Ukrainer nun auch über Krieg nachdenken.

Kiew, Metro Lukianivska, früher Abend: Vor der U-Bahnstation steht ein junger Mann mit einem Strauß Blumen und wartet auf seine Verabredung. Als sie kommt lächelt er, gibt ihr schüchtern einen Kuss auf die Wange. Ein paar Meter weiter stehe ich mit einem Freund an der Bushaltestelle. "Schau mal", sagt er und deutet auf das Pärchen, "Ist doch schön das zu sehen. Seit Wochen siehst du an jeder Ecke Menschen mit Blumen, um sie zum Maidan zu bringen. Endlich warten sie damit wieder auf ihre Freundinnen." Endlich wieder so etwas wie Normalität.

Nach den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Wochen ist etwas Ruhe in Kiew eingekehrt, wenn auch eine angespannte, trügerische Ruhe. Der Maidan und die umliegenden Straßen sind voller Blumen, daneben Bilder der Getöteten, Kerzen. Tausende Menschen kommen jeden Tag hier vorbei, um der Toten zu gedenken. Kaum jemand spricht ein Wort und wenn doch, ist es ein vorsichtiges Flüstern. Der Platz wirkt wie ein riesiger Friedhof. Der Schock über die vielen Toten sitzt immer noch tief.

Blumen und Kerzen für die Getöteten am Maidan

EPA/ALEXEY FURMAN

Und gerade, als die Menschen auf einen Neustart hofften, kam der nächste Schock: Russland marschiert auf der Krim ein. Das wirkt wie aus einem schlechten Drehbuch in der Zeit des Kalten Krieges. Im Hollywoodscript müsste nun irgendein Held auftreten, der die Welt vor Schlimmerem bewahrt, doch in der Realität schwindet die Hoffnung auf ein Happy End. In den letzten Monaten sind in der Ukraine die schlimmsten Befürchtungen nicht nur eingetreten, sondern sie wurden immer wieder übertroffen. Und nun, nach der erfolgreichen Revolution, steht das Land wieder vor bad case- und worst case-Szenarien. Dass sich alles doch noch zum Guten wendet, damit rechnet in Kiew keiner mehr.

Dabei gäbe es nun trotz aller Schwierigkeiten und Problemen, vor denen das Land steht, erstmals die Möglichkeit, die Ukraine völlig umzukrempeln. Doch die Krise auf der Krim paralysiert das Land. "Derzeit steht alles still. Es gibt so viel zu tun, auch die neue Regierung muss ständig beobachtet werden, das tritt alles aber gerade in den Hintergrund", sagt Maks, während er in unserer Küche am Fenster lehnt, um den Rauch seiner Zigarette hinaus zu blasen. Maks ist Mitte Dreißig, Journalist, Menschenrechtsaktivist, und arbeitet bei einem guten Dutzend NGOs mit. Wenn er die Liste aufzählt, hat man die ersten am Ende schon wieder vergessen. Maks hat sich seit Monaten in derselben Wohnung eingenistet, in der auch ich wohne, wenn ich in Kiew bin. Sie liegt nur ein paar hundert Meter vom Maidan und beherbergt wegen ihrer guten Lage derzeit doppelt so viele Menschen, wie es Schlafzimmer gibt. Wenn man spätnachts nach Hause kommt, liegt Maks üblicherweise mit seinem Kopf am Küchentisch, wo er vorm Laptop sitzend der Müdigkeit nachgegeben hat. Wenn man ihn aufweckt, steckt er sich zuerst eine Zigarette an, nimmt ein Bier aus dem Kühlschrank und sagt Dinge wie: "Du weißt, ich bin Pazifist wie kein anderer. Heute habe ich mich für den Fall eines Krieges für die Armee eingeschrieben. Dabei weiß ich doch gar nichts vom Krieg."

Bewaffnete Männer im Hafen von Sevastopol

EPA/ZURAB KURTSIKIDZE

Noch immer glauben die meisten Menschen, dass es nicht zu einem großen Krieg kommen wird, dass der Konflikt auf die Krim beschränkt bleibt. Aber mittlerweile traut sich niemand mehr, irgendetwas auszuschließen, da in den letzten Monaten immer genau das eingetreten ist, was man vorher als undenkbar bezeichnet hat. Die Quintessenz meiner Gespräche mit Ukrainern ist: Putin ist einfach verrückt und hat völlig den Bezug zur Realität verloren. Deshalb ist ihm alles zuzutrauen.

Und so stehen Männer im ganzen Land Schlange, um sich auf Mobilisierungslisten einzuschreiben. Nicht nur im Westen, sondern auch immer mehr im Osten der Ukraine, wo viele Menschen der Revolution im fernen Kiew skeptisch gegenüberstehen. Aber durch die De-Facto-Okkupation der Krim hat sich die Stimmung auch hier gewandelt. Neben den pro-russischen Demonstrationen stehen immer mehr Menschen auf der Straße, die für eine unabhängige Ukraine eintreten. Putin dürfte es so nicht geplant haben, aber er hilft gerade, die Ukraine zu einen. "Was für eine Ironie", sagt Maks und schlurft in Richtung Bett. "Ich muss mehr schlafen", murmelt er noch vor sich hin, bevor er die Türe schließt.