Erstellt am: 5. 3. 2014 - 15:10 Uhr
Ich wäre so gern Alexander
"Wäre ich nicht Alexander, möchte ich wohl Diogenes sein!", sagt man, dass Alexander der Große gesagt haben soll, als er er den berühmten Zynikerphilosophen getroffen hat. Nein, ich fühle mich nicht wie Diogenes , aber ich wäre so gern Alexander.
Alexander ist mein Gegensatz. In der letzten Woche habe ich mich für einen Job als Barkeeper, als Ticketverkäufer im Zirkus, als Nachtportier, als Supermarktkassakraft, als Postbote und als Integrationshelfer beworben (die letzte Position ist mir nicht ganz klar, aber ich fühle tief in mir eine Neigung, den Menschen beim Integrieren zu helfen. Ich will ein Integrator sein!).
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Alexander braucht keine Integration. Er ist jener Typ Mensch, der es schafft, auf dieser Welt mit den geringsten Bemühungen durchzukommen. Er lebte lange von einem Euro am Tag. Er verdiente diesen Euro folgendermaßen: Er borgte sich von jemandem 50 Euro. Danach ging er ins Casino und kaufte sich Chips um dieses Geld. Als neuer Spieler bekam er immer einen Euro Bonus. Danach machte er eine Runde im Casino und gab die 51 Euro Chips zurück. So verdiente er seinen Euro. Danach gab er immer sein Geborgtes zurück. Nur ein einziges mal wagte er es, im Casino zu spielen. Und er gewann! Ganze 2000 Euro! Danach rief er alle an, von denen er sich jemals Geld geborgt hatte, um sich zu bedanken. Mich rief er auch an. Im Telefonhörer konnte man die Geräuschkulisse des Casinos hören. Alexander versprach, mir ein Bier zu spendieren. Am nächsten Morgen hatte er wieder nur einen Euro. Er hatte die restlichen 1999 verspielt. Das aber brachte ihn gar nicht aus der Ruhe. "Was sollte ich mit so viel Geld machen?", fragte er. Danach ging er im Chor einer orthodoxen Kirche singen. Alexander singt wundervoll. Wenn man zu seiner Engelsstimme seinen Lebensstil, wo Geld überflüssig erscheint, addiert, hat man den fast perfekten Christen gefunden.
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Wie jedem wahren Christen passierte ihm ein Wunder. In einem Damenchor suchte man nach einem Alt. Alexander ist ein Bariton, aber er hat ein wunderbares Lächeln. Er bewarb sich um die Stelle und wurde als einziger Mann im Chor genommen. Dann flog der Chor auf Tour nach China. Sie zahlten Alexander das Flugticket und Tagesgeld. (Alexander ist außerdem der einzige Mensch, den ich kenne, der ohne Ticket mit einem Flugzeug von Sofia bis nach Wien geflogen ist. Wie er den Flieger bestiegen hatte, ist mir bis heute ein Rätsel. Als ich ihn fragte, wie er das geschafft hatte, lächelte er nur und sagte etwas über die Mithilfe des heiligen Geistes.) So flog Alexander nach China. Nach einem Monat kam der Chor von der Tour zurück. Ich wartete auf Alexander, der mir über seine neuen Abenteuer erzählen sollte. Ich wartete vergeblich. Alexander war in China geblieben. Dort habe er die Liebe seines Lebens getroffen. Laut seinen Angaben ein Topmodel. Sie habe sich in seine Engelsstimme verliebt und er sei bei ihr geblieben. Ich hätte so gerne genau erfahren, wie das alles passiert ist! Alexander kann ungefähr 20 Wörter auf Deutsch, 20 Wörter auf Englisch und 20 Wörter auf Russisch. Wie er sich wohl mit dem chinesischen Topmodel verständigen konnte? Durch Singen?
Eines Tages erfahre ich es. Leute wie Alexander gehen nie verloren. Sogar unter zwei Milliarden Chinesen nicht. Deshalb warte ich noch heute auf ihn. Jedes Mal, wenn ich an einem Casino vorbeikomme, versuche ich hinter den dunklen Türen Alexander zu finden, der gerade seinen Euro verdient...
Bis dahin suche ich mir wieder einen Job. Hier ist jetzt sogar eine Anzeige: Todor, jung, mit Sinn für Humor, kann fast alles. Ich warte auf Anrufe! Mit Alexander passierte ein Wunder, warum auch nicht mit mir?