Erstellt am: 1. 3. 2014 - 16:31 Uhr
Tragische Schönheit
LimasseFive
Keine Waffen, keine Gegner, keine klassische Story - "NaissanceE" fehlt einiges, was Spiele für gewöhnlich ausmacht. Im Independent-Spiel des französischen Ein-Mann-Studios LimasseFive wird nichts erklärt, dafür gibt es aber beeindruckende Atmosphäre und ein Abenteuer, das man nicht so schnell vergisst. Auf sich allein gestellt, findet man sich unvermittelt in einer monochromen, großteils in Schwarz-Weiß-Grau gehaltenen Fantasiearchitektur, deren Natur sich im weiteren Spielverlauf nach und nach enthüllt.
Die Art und Weise, der Stil, mit dem uns Entwickler Mavros Sedeño hier von der allerersten Sekunde an überrascht, lässt sich nur unzureichend mit Worten beschreiben: Von titanischen Schächten, licht- und schattenumspielten minimalen Architekturen bis hin zu gewaltigen, ehrfurchtgebietenden Ausblicken fesselt "NaissanceE" von der ersten Minute an dadurch, dass es uns in eine Welt versetzt, die im besten Sinne fantastisch ist und uns wieder und wieder zu Zwergen werden lässt.
Synästhesie
Ein Sound- und Bildgewitter, zur Verstörung der geneigten Leser: Ein weiterer, zweiter offizieller "NaissanceE"-Trailer ist ein ton- und bildgewaltiger Albtraum.
Die Inspirationsquellen sind so ambitioniert wie stilsicher: Von den berühmten "Carceri", den Kerkervisionen des Renaissance-Architekten Giovanni Battista Piranesi, über die gehirnverknotenden Konstruktionen MC Eschers zu den monumentalen Science-Fiction-Designs von Film- und Ausstattungsklassikern wie "THX1138", "Cube", "2001 - Odyssee im Weltraum", "Alien" und "Bladerunner" reicht die Palette der optischen Vorbilder bis hin zu den architektonischen Albtraumvisionen Tsutomo Niheis im Cyberpunk-Manga "Blame!". Doch auch die im Kopf entstehenden gigantischen literarischen Höhlenwelten aus "House of Leaves" oder Jorge Luis Borges' "Bibliothek von Babel" nennt der Entwickler als Inspiration - und man nimmt ihn angesichts seines Werks beim Wort.
LimasseFive
Dass "NaissanceE" aber nicht nur optisch überwältigt, ist dem fantastischen, genial ausgefallenen Soundtrack zu verdanken: Mit Musik von Pauline Oliveros, eine der großen US-Legenden der experimentellen elektronischen Musik, und der großartigen, nicht weniger experimentierfreudigen französischen Stimm- und Musikakrobaten Patricia Dallio und Thierry Zaboitzeff ist "NaissanceE" mit majestätischer, teils experimenteller Ambient-Musik und düster-bedrohlichen Soundscapes unterlegt. Das Spiel entstand quasi zur bereits existierenden Musik und diese verbindet sich so auf's Wunderbarste mit der Struktur der jeweiligen Umgebung - ein gelungenes Experiment in Synästhesie, wie man es so nur selten gesehen und gehört hat.
Spaziergang mit Fluchkaskaden
Eine fantastische, lineare Welt, durch die wir uns unseren Weg bahnen, das alles durchdringende Gefühl der Einsamkeit, die Atmosphäre als Hauptdarsteller - wer jetzt vermutet, dass es sich bei "NaissanceE" um eines jener fast von Gameplay befreiten Exploration-Spiele der Marke "Dear Esther" oder "Proteus" handelt, irrt. Denn es gibt doch einiges an Herausforderungen in den insgesamt etwa neun Stunden, angefangen mit der essentiellen Aufgabe, sich ohne Stürze seinen Weg durch die oft beeindruckend vertikalen Architekturen zu bahnen. Auch einfache und anspruchsvollere Rätsel mit Licht und Schatten müssen ab und an gelöst werden.
LimasseFive
Dass nicht nur Köpfchen und Orientierungssinn gefragt sind, sondern - leider, möchte man fast sagen - auch Präzision und Sprunggeschick, macht dieses synästhetische Gesamtkunstwerk aber endgültig und ohne Diskussion ganz eindeutig zum Spiel. Eine Warnung an die zu Recht überall aufzufindenden Feinde von Sprungpassagen in First-Person-Spielen: Ja, es gibt in "NaissanceE" einige wenige Levelabschnitte, in denen uns mit Millimetersprüngen beachtliche Geschicklichkeit abgefordert wird.
Direkt in der Mitte des Spiels, nach Passagen tatsächlich einzigartiger Schönheit und unmittelbar vor einem Abschnitt, der auf's Meisterhafteste mit unserer Wahrnehmung spielt (durchhalten!), fordern unvermittelt heikle Sprungpassagen unsere Frustresistenz fast über Gebühr heraus. Das ist schade, denn wie "Journey", "Kairo" oder "Proteus" bräuchte auch dieses Ausnahmespiel im Grunde kein skillbasierendes Gameplay-Element und würde eventuell als ganz herausforderungsfreie virtuelle Installation zum staunenden Durchwandern sogar noch besser funktionieren.
LimasseFive
"NaissanceE" ist für Windows erschienen.
Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Kürzlich wurden die frustrierendsten Abschnitte durch einen Patch entschärft und weitere Speicherpunkte eingebaut. Somit sollte sich wirklich niemand davon abhalten lassen, sich in "NaissanceE" zu verlieren. Es erscheint mir unangebracht, ein ästhetisch derart gelungenes und beeindruckendes Ausnahmespiel anhand seiner wenigen Unzulänglichkeiten zu beurteilen anstatt seine kalte, einsame und erhabene Schönheit zu würdigen.
Und diese Schönheit beeindruckt. "NaissanceE" ist für mich schon jetzt ein Spiel des Jahres. Ein dunkler, roher Diamant.