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Petra Erdmann

Im Kino und auf Filmfestivals

16. 2. 2014 - 11:19

Endlich sind die Bären los...

Die Gewinner der 64. Berlinale

Die internationale Jury hat in der Wettbewerbskategorie überraschende Entscheidungen getroffen. Kein Wunder, sind doch alle ihre Mitglieder Wahlverwandte unter den bekennenden Arthousianern:

Chiisai Ouchi

Berlinale

Haru Kuroki

Asien ist der große Abräumer bei den 64. Filmfestspielen in Berlin. Die Hauptkategorien gehen an China, Japan und die USA ab. Haru Kuroki bekommt für ihre Rolle des treuen Hausmädchens in der Liebesromanze „Chiisai Ouchi“/“The Little House“ des japanischen Altmeisters Yoji Yamada den silbernen Bären. Die amerikanischen Regisseure Richard Linklater und Wes Anderson (Großer Preis der Jury für das exzentrische „The Grand Budapest Hotel“ ) haben die internationalen Juroren beeindruckt.

Berlinale-Jurypräsident, Produzent („Dallas Buyers Club“) und Autor James Schamus hat nahezu alle Drehbücher für Ang Lees Filme geschrieben. Da sitzt auch Regisseur Michel Gondry im Entscheidungsgremium. Sein „Eternal Sunshine of a spotless mind“ hat Schamus genauso produziert wie Ang Lees „Lust, Caution“, in dem der nächste Juror, der chinesische Schauspielmelancholiker Toney Leung mitgewirkt hat. Dass die it-Darsteller Greta Gerwig („Frances Ha“) und Quentin-Tarantino-Liebling Christoph Waltz („Django Unchained“) auch nicht auf gewöhnliche Laufware im Weltkino stehen, war klar.

Die einzige die in Bären-Runde ausschert, ist die US-Produzentin Barbara Broccoli. Sie kommt mit sieben James-Bond-Filmen vom kommerziellen Mainstream. Als Action-Fachspezialistin könnte sich auch im Falle von Goldenen-Bären-Gewinner „Bai Ri Yan Huo/Black Coal, Thin Ice“ als besten Film das Tüpfelchen auf dem „i“ gewesen sein. Den Regisseur Diao Yinan hat eine äußerst originelle und reizvolle Mixtur aus einem farbenprächtigen brutalen Neo-Noir und einem sozialkritischen Serienkiller-Drama hingelegt:

1999 werden in einer Kleinstadt im Norden Chinas abgetrennte Gliedmaßen auf den Fließbändern in mehreren Kohlebergwerken befördert. Der Aufklärungsversuch des emotional angeschlagenen Polizisten Zhang Zili führt zu einem Blutbad und seiner Suspendierung. Fünf Jahre später nimmt er die Ermittlungen wieder auf. Eine Spur führt in eine Putzerei zu einer schweigsamen Angestellten und Femme Fatale. Für seinen melancholischen Anti-Helden hat Schauspieler Liao Fan den „Silbernen Bären“ erhalten

Liao Fan, Motorrad, Schnee, Mauer

Yinan Diao

Black Coal, Thin Ice

Exekutive, die bei Strategiebesprechungen Wassermelonen verschlingt. Der Detektiv als Loner zieht mit Alkohol und Sehnsucht bewaffnet durch eine Winterlandschaft, um einen Mörder zu stoppen, der mit Eislaufschuhen seine Opfer aufschlitzt.

Diao Yinan führt uns aufs Glatteis

Filmemacher Diao Yinan verknüpft bizarres Genrekino mit eigentümlichen Wendungen und ironischem Realismus. Der politische Status Quo, die Armut und der Alltag im provinziellen China fungiert als Hintergrund. Eine versaute Lederjacke im Wert von vielleicht 200 Euro reicht, um einen Teufelskreislauf aus Gewalt, Eifersucht und Feuerwerken in Gang zu setzen. In China sei es bedingt durch die Zensur noch immer schwierig „gesellschaftliche Probleme so abzubilden, wie man es gerne würde, zumindest im künstlerischen Autorenkino“, äußerte sich Hauptpreisträger Diao Yinan nach der Preisverleihung gestern Abend.

Unter den insgesamt 20 Wettbewerbsbeiträgen war „Boyhood“ von Richard Linklater am Donnerstag noch als Kritiker-Liebling und Favorit ins Rennen gegangen.Über 12 Jahre hindurch hat Linklater das Leben einer dysfunktionalen Patchwork-Familie verfolgt. Alljährlich hat er mit den gleichen Schauspielern (u.a. Ethan Hawke und Patricia Arquette als getrennte Eltern) rund eine Woche Alltag inszeniert. Einen so famos berührenden und wuchtigen Entwurf von „Normalität“ in 164 Minuten hat die Leinwand schon lange nicht mehr gesehen, der mit der besten Regieleistung von der internationalen Jury belohnt wurde. Kein fiktiver Unfalls- oder Krebstod gerät hier zur tranigen Drama-Masche. Linklater sind die beiläufig gewichtigen Lebensmomente prall genug. Im Zentrum steht Sohn Mason (Ellar Coltrane), der vom 6. bis zum 18. Lebensjahr neben seiner energetischen Schwester (Lorelei Linklater, die Tochter des Regisseurs) im Gefühlschaos heranwächst.

Man kann dieses risikoreiche Filmexperiment nicht hoch genug loben. Was hätte alles schief gehen können und wer hätte wissen sollen, dass das Kind Ellar Coltrane sich bis ins hohe Teenageralter als wunderbar überzeugender Performer entpuppt. Dennoch verzichtet Richard Linklater in „Boyhood“ auf die üblichen Ingredienzien eines Coming-of-Age-Movies. Kurzweilig, intensiv und tiefsinnig bleibt „Boyhood“ auch ohne den ersten Kuss oder ausgewalzten Liebeskummer. Keine Klischee-Schlachtfelder markieren die Pubertätswirren und auch die erwachsenen Charaktere zerbröseln nicht an ihren Beziehungsauf und -abs.

Bub im Gras liegend

Richard Linklater

Boyhood

In „Boyhood“ verdichten und zerdehnen wechselnde Frisuren, Körperformen und ein Soundtrack unterschichtlicher Geistesgegenwärtigkeiten eindringlich die Zeit. Der Stiefvater und Alkoholiker erzwingt beim Frisör die Stoppelglatze für Mason. Der bezaubernde Luftikus und Vater Mason Jr. (Ethan Hawke) schenkt dem Sohn das selbstgebrannte „Black Album“ mit den Solo-Songs jedes Ex-Beatle für jede Lebensphase. Von Coldplay bis Daft Punk, die Musik zeichnet subtil eine Ära eines guten Jahrzehnts. Kaum jemand scripted so natürlich frisch Situationskomik wie Linklater und niemand verkörpert sich authentisch erfrischend wie sie Ethan Hawke. Nach „Before Sunrise, „Before Sunset“, „Before Midnight“ und nun dem Meisterwerk „Boyhood“ hat Richard Linklater seine Fortsetzungsfilme für beendet erklärt. Er habe nun fürs Kino „Klassischeres vor, auch wenn der Faktor Zeit nach wie vor eine große Rolle darin spielen wird“.

Teenagerfiguren waren heuer im Berlinale-Wettbewerb überpräsent. Der deutsche Beitrag „Kreuzwege“, geschrieben von Regisseur Dietrich Brüggemann und seiner Schwester Anna hat die Kritiker in zwei Lager geteilt. Die einen konnten dem Konzept, den Seelenschmerz der jungen strengen Katholikin Maria in 14 Bildern (ungeschnittenen Szenen) des Kreuzwegs Jesu etwas abgewinnen, den anderen war es formal zu engmaschig gestrickt. Das Drehbuch hat den Silbernen Bären gewonnen. Damit konnte man schon wieder d'accord gehen.

Made in Austria

Mit 13 Beiträgen Made in Austria war heuer der Österreicher-Anteil quer durch alle Berlinale-Sektionen ungewöhnlich hoch. Am Freitagabend hatte der straffe und gar nicht betuliche Debütfilm „Macondo“ der iranischstämmigen Sudabeh Mortezai Premiere im Wettbewerbsprogramm. „Macondo“ erscheint im Traditionsstil von sozialrealistischen heimischen Filmen, wie sie seit den 90er-Jahren etwa Barabara Alberts „Nordrand“ als solide im positiven Sinne ernüchternde Charakterstudie im migrantischen Wien angesiedelt sind. Die Regisseurin erzählt sehr gegenwärtig von einem muslimischen Flüchtlingsjungen in der tschetschenischen Community in Wien, wo ihm verantwortungsvolles Mann- und Kindsein gleichermaßen abverlangt wird.

Grüßender Mann

Hubert Sauber

We Come As Friends

„Macondo“ ging leer aus. Für die österreichischen Dokumentationen „Das große Museum“ (Caligari Preis) von Johannes Holzhausen über das Kunsthistorische Museum zwischen Sammeln, Marketing und Politik und für ein nach „Darwin's Nightmare“ weiteres filmisches Anti-Globalisierungsmanifest von Hupert Sauper, nämlich für „We come as friends“ gab es auf den 64. Filmfestspielen in Berlin den Friedensfilmpreis.

Hier die vollständige Liste der Berlinale-Preisträger