Erstellt am: 13. 2. 2014 - 19:54 Uhr
Peer, Pressure, Performance
Trinkspiele und andere Mut- und Ekelproben, verbunden mit kollektivem Fingerzeigen und sozialer Ächtung, wenn mal jemand nicht mitmacht oder es einem unangenehm wird, gibt es wohl schon seit Menschengedenken. Die weitreichende Aufmerksamkeit, die diese Urform des Gruppendrucks aber dank der Verbreitung übers Netz auf sich ziehen kann, ist naturgemäß noch recht jung. So kam es also, dass eine der ersten Facebook-Bewegungen des Jahres das bescheuerte alte "Ex oder nie wieder Sex"-Gehabe wurde, natürlich runderneuert und mit frischem Namen. "Neknominate" macht das eigene soziale Netzwerk, potenziell aber alle Menschen zum Teil der Gruppe, und wie immer gilt: Wer gerade leidet, hat als nächstes das Recht, sich ein Opfer zu suchen.
So begingen also einige Menschen, vor allem junge Männer, das neue Jahr mit gockelhaftem Gepose vor der am Tisch platzierten Smartphone-Kamera. Bierflasche und -glas in der Hand, halblustige Sprüche klopfend, und auf Ex. Danach wird Stefan, Sabine oder Saskia nominiert, und wehe ihnen, wenn sie sich nichts noch Lustigeres einfallen lassen, oder - Gott behüte - sich gar weigern, der Aufforderung Folge zu leisten. Die neuen Facebook- und YouTube-Kettenbriefe verbreiteten sich, ausgehend von schlichten Gemütern in Australien und Großbritannien, wie ein Lauffeuer. Weil einfach runterkippen natürlich schnell mal zu wenig ist, wurde schon bald Bier kopfüber aus dem Klo getrunken oder der Gewehrlauf einer Shotgun als Trinktrichter verwendet. Noch ein fester Rülpser zum Abschluss, dann ist man endlich frei und kann selbst nominieren.
Betulichkeit und lahme Warnungen
Schnell waren allerorts Aufregerberichte zu lesen, bald schon gab es vereinzelte Todesfälle, die "Neknominate" zugeschrieben wurden, sowie Warnungen, dass das mit dem Alkohol ja gar nicht so ungefährlich sei. Etwas überraschender waren da schon die leisen, aber amüsanten Gegenbewegungen, die im guten Anzug beim gediegenen Getränk aus "The Hobbit" vorlesen und deshalb Tee statt Bier runterkippen, because we're british. Gerülpst werden darf freilich auch hier.
Wo stillere Gemüter, die weniger kamerageil sind, sich während dieser Zeit ihren Kettenbriefspaß auf Facebook holen, indem ein Film/Spiel/Regisseur/Comic/Wurstfoto gepostet wird und jede/r, die/der das liked, danach selbst an die Reihe kommt, kennt andernorts die Selbstinszenierung kaum Grenzen. Viele sehnen sich nach den paar Minuten Ru(h)m im Internet, aber die Sauferei kann man in etwas klügeren Kreisen oder als Firma natürlich nicht verantworten, ohne das Gesicht zu verlieren. Also muss eine neue Idee her, und zwar: Dieses Trinkspiel ist blöd, deshalb machen wir mit dem Prinzip stattdessen etwas Sinnvolles. Gesagt, getan, und schon ist aus "Neknominate" "Change Nomination" geworden.
Getrunken wird dabei manchmal immer noch, doch nun geriert man sich dabei gleichzeitig auch als reflektierte/r Bürger/in indem vor laufender Kamera zweistellige Eurobeträge an diverse karitative Einrichtungen gespendet werden. Dazu muss man sich nicht mal vom IKEA-Chefsessel erheben, ein paar Klicks auf PayPal genügen, Beleg ausdrucken, in die Kamera halten, fertig. Vor allem in Tirol hat "Change Nomination" um sich gegriffen: Neben Aufmerksamkeit heischenden Privatmenschen hat sich nun auch der Handel auf die Kettenbriefaktion geworfen. Weil alles auf der Facebook-Seite zusammengetragen wird und es ja unklug wäre, sich einer kostengünstigen PR-Chance zu entziehen, bringen nun schon seit einigen Tagen diverse kleinere Firmen ihre Produkte etwa bei Obdachlosenheimen vorbei. Weil aber nicht jede/r zum Entertainer geboren ist, sind die notwendigen Videomoderationen manchmal unfreiwillig komisch, und man ist sich nicht sicher, welche Form der Aufmerksamkeit unterm Strich übrig bleiben wird.
"Change Nomination" ist eine unausgegorene Mischung aus halbprivater Selbstdarstellung und etwas holprig präsentierter "Corporate Social Responsibility", wie der betriebswirtschaftliche Fachterminus heißt. Ob sich die kettenbriefförmige Spendenaktion trotz zentraler Vernetzung und teils auch internationalem Interesse zügig aus lokalen Communities herausbewegen wird können, bleibt fraglich - immerhin nominiert man meistens Leute, die im selben Ort wohnen oder Firmen, die in der Nebenstraße ihr Geschäftslokal haben. Aber auch wenn der soziale Nominierungstrend bald wieder an Fahrt verliert, ist seine Dynamik derzeit wesentlich wohltuender als die alkoholgetränkte, geistig steil nach unten verlaufende Viralspirale von "Neknominate".