Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Die finstere Vergangenheit - Nick Cave und Ebensee "

Petra Erdmann

Im Kino und auf Filmfestivals

12. 2. 2014 - 14:58

Die finstere Vergangenheit - Nick Cave und Ebensee

Die 64. Filmfestspiele von Berlin haben ihre Mitte gefunden. Halbzeit im Wettbewerb im Leben verstörter Teenagerfiguren und dokumentarischer Pubertät.

Ich stehe mit durchschnittlich 3.700 akkreditieren Filmjournalisten um 7.00 auf. Um 8.00 forme ich meinen Reservierungsknäuel auf einem Kinosessel im Berlinale Palast. Die potentiellen Bären-Filme laufen nämlich um 9.00 in den Pressescreenings und die will man nicht verpassen. I wish I had… waren bisher auffällig oft die Untertitel meiner Gedanken im Wettbewerbsprogramm. In „Jack“ des deutschen Edward Berger etwa, lässt eine Mutter ihre zwei Buben alleine. Die Inszenierung eines extremen Kinderschicksals wirkt brav und aufgeräumt. Das Klischee von der überforderten jungen Frau, die lieber auf Männerfang und Technoparties geht als sich um ihren Nachwuchs zu kümmern, wird hier ebenso unterstrichen wie ein realistischer Stil, der abenteuerlich mit Streichermusik untermalt wird.

Zwei Mädchen auf einer Landstraße. Hinter ihnen ein Junge mit Fernrohr

© Alexander Sass

Kreuzweg

In diesem Berlinale-Wettbewerb müssen vor allem Teenager leiden. In „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann führt eine fanatische 14jährige Katholikin ein Doppelleben in 14 Bildern des Kreuzwegs. In „History of Fear“ des Argentiniers Benjamin Naishtat performen Jugendliche allzu thesenhaft die paranoide Zweiklassengesellschaft in einer Gated Community. Am Freitag lässt der österreichische Wettbewerbsbeitrag von Regisseurin Sudabeh Mortezai „Macondo“ hoffen. Die iranisch-stämmige Regisseurin hat für ihr Spielfilmdebüt einen elfjährigen muslimischen Flüchtlingsjungen zwischen Konflikt und Verantwortung gestellt.

Ein kleiner Junge sitzt auf einem Balkon

FreibeuterFilm

Macondo

Auch Nick Cave steht um 7.00 Uhr auf. Davon konnte man sich in der spielerischen Dokumentation „20.000 days on earth“ der beiden Visual Artists Iain Forsyth und Jane Pollard gleich das erste Bild machen. Von Caves Wecker nämlich, der uns illustriert, dass ein finsterer Ex-Junkie mit 56 Jahren jetzt, nach 20.000 Tagen Leben auf dieser Erde, keine Zeit mehr zu verlieren hat. In den fiktiven 24 Stunden eines prall gefüllten Künstlertags hämmert der rasende Poet in seine mechanische Schreibmaschine, erklärt anhand von Archivfotos seine Obsessionen, spielt im Studio sein Album „Push the sky away“ ein oder cruist nächstens mit dem Jaguar durch seinen englischen Wohnort Brighton.

Nick Cave sitzt am Steuer eines Autos und chauffiert Kylie Minogue

Chloë Thomson

20,000 Days on Earth

Die Autofahrten sind intim konstruierte Settings mit alten Bekannten. Kyle Minogue sitzt auf der Rückbank, Nick Cave chauffiert sie. Später dann ist Blixa Bargeld dran, „der die Bad Seeds 2003 mit einem 2 Zeilen-Email verlassen hat und seitdem haben wir bis zu diesen Dreharbeiten nie mehr miteinander gesprochen“. Solch und andere Schnurren hat der porträtierte Independent-Music-God auf der Berlinale Pressekonferenz preisgeben und von seiner Anspannung angesichts des Bargeld-Wiedersehens erzählt.
Die schier endlose Inspiration für melancholische Songzeilen liegt in seiner wunderschönen Kindheit. Nick Cave schüttet sein Herz und Hirn („Die größte Angst habe ich vor einem Gedächtnisverlust“) in einer als Therapiestunde getarnten Interviewsituation seinem Psychoanalytiker aus. „20.000 days on earth“ hat was von einer gelungenen Beichtstuhlatmosphäre. Nick Cave betet seine Interessen herunter und man selbst hängt auf der Fanbank an seinen Lippen.

Aus der Mitte der Gesellschaft

Böse Buben, die sich innerhalb von zwei Jahren mal Punks, mal Rechtsextreme nennen - die gibt’s im oberösterreichischen Ebensee. Dort, wo 2009 eine Gruppe vermummter Jugendlicher, anlässlich von Gedenkfeierlichkeiten um das KZ Ebensee, „Sieg Heil“-Parolen skandierten und mit Maschinengewehrattrappen herumfuchtelnd für einen Skandal inklusive Gerichtsprozess gesorgt haben. Diese Hintergründe und der Alltag von jungen Ebenseern und ihren Eltern haben Filmemacher Sebastian Brameshuber („Muezzin“) zu seiner zweiten Dokumentation „Und in der Mitte, da sind wir“ geführt.

Die meisten seiner Protagonisten sind 15jährige. Da ist zum Beispiel der Waffennarr Andi, der zwischendurch lieber reicher BMW Fahrer in Anzug werden wollte als Polizist, um dann doch wieder die Schulbank zu drücken. Ramona besteht auf ein Lippen-Piercing, das ihr die Mutter nicht erlaubt. Sie will keine Optikerausbildung machen, lieber Friseurin werden. Gastronomielehrling Michi tanzt beim Ortsfest den „Michael Jackson“. Später übt er sich in einer Punkattitude in Doc-Martens.

Zwei Buben sitzen am Ufer eines Sees, der eine mit Lederhose, der andere in eine britische Flagge eingehüllt.

KGP

Und in der Mitte, da sind wir

Die beobachtende Kamera ist nicht auf der moralischen Suche nach Schuldigen von Neo-Nazi-Aktionen. Die Gespräche, die Brameshuber mit den jungen Ebenseern führt, zeugen mehr von der Identitätssuche ganz normal Pubertierender. Nur, dass die Vergangenheit von Ebensee nicht ganz normal ist, und selbst in der Gegenwart finden die Familien nicht immer den richtigen Umgangston über die Nazi-Gräuel. Der Titel von Brameshubers Milieustudie ist programmatisch – „Und in der Mitte, da sind wir“ - Brameshuber erzählt von wechselnden Grautönen in der Pubertät und von einer unklaren Zukunft, die sie mit sich bringt. Er hält die spekulativen Motive für die Gedenkfeier-Störaktion vor fünf Jahren im Hintergrund. Zwischen Neo-Nazitum und „harmlosem Bubenstreich“, in Aussagen der befragten Ebenseer, manifestiert sich die kollektive „Mitte“. Eben die, die latent verdrängt wird, weil sie am Tatort ganz normal lebt.