Erstellt am: 8. 2. 2014 - 16:44 Uhr
Unsichtbar und ohne Namen
Blizzard Entertainment
Wer die technischen Hintergründe kennt, war immer schon im Vorteil. Wer sie eindringlich vorgeführt bekommt, kann die Konsequenzen rechtzeitig abschätzen. Es war Ende der 90er Jahre im alten Battle.net, der pionierhaften Online-Plattform der Blizzard Entertainment-Computerspiele ("Warcraft", uva.), als ein guter Freund und IT-Profi einen sogenannten Bot programmiert und in den Chatraum installiert hat. Der Bot war ein geschicktes Programm, ein kostenloses Tool für alle Chatteilnehmer bzw. Spieler/innen. Man konnte den Bot etwa fragen, wie spät es ist und welcher User sich wann das letzte Mal eingeloggt hat. Er hatte auch einige Späße und Scherze drauf und bekam im Laufe der Monate immer mehr Funktionen spendiert.
Was viele nicht wussten: Der Bot loggte nicht nur die an ihn gerichteten Befehle mit, sondern alles, was im Chatroom geschrieben - und geschimpft - wurde. Der Freund hatte schon damals klare ethische Grundsätze und die Protokolle anschließend bloß mit einem schelmischem Grinser intern dafür verwendet, den jugendlichen Übermut unserer damaligen Gamer-Community bloßzustellen. Es blieb beim Mitlachen und ein bisschen über sich selbst schämen. Eines stand danach aber fest: So wirklich anonym bist du im Internet nie.
Keine Blicke, keine Gesten, kein Körper
Es ist interessant, dass bis heute, also über 15 Jahre nach der Aufbruchszeit des Web und der Geschichte mit dem Bot, Kommunikation übers Netz weiterhin vornehmlich schriftlich passiert. Klar, es gibt Videotelefonie, Podcasts und Voice Chat - dennoch läuft der Großteil des sozialen Austausches immer noch schriftlich ab. Das bedeutet: Du siehst die andere Person nicht, du bekommst keine Blicke und keine Gesten von ihr und kannst selbst keine aussenden. Manchmal hast du nicht mal einen Namen, mit dem du etwas anfangen kannst. Wenn Kommunikation unter solchen Umständen abläuft, können Schreibstil und Wortwahl schon mal außer Kontrolle geraten - selbst dann, wenn normale User im (strafrechtlich relevanten) Ernstfall immer ausgeforscht und zur Verantwortung gezogen werden können.
Um ein vergiftetes Sprachklima zu bemerken, muss man gar keine pubertierenden Computerspieler beobachten, die sich Kraftausdrücke an den Kopf werfen. Ein Blick in ein beliebiges Forum einer Online-Zeitung oder -Zeitschrift genügt, um die Enthemmung zu offenbaren, die zwischen kommunizierenden Menschen entsteht, wenn sie sich nicht sehen und lesen können, also unsichtbar sind. Das ist gegenwärtig ein viel größeres Problem als noch in den 90er Jahren, wo das Netz ein Novum war, für das sich viele nicht mal aus der Ferne interessiert hatten. Heute sind in unseren Breitengraden quasi alle mehr oder weniger online. Es wird viel mehr diskutiert als früher, die Heftigkeit hat aber kaum abgenommen - im Gegenteil. Heute verbreitet sich der mehr oder weniger anonyme Hass mitunter konzentrierter und konzertierter - Stichwort Shitstorm - und sorgt für entsprechende Fassungslosigkeit.
Gesellschaftliche und politische Aspekte von Anonymität
Heribert Corn
"Der unsichtbare Mensch – Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert" heißt das Buch der Wiener Medienjournalistin Ingrid Brodnig (Ressortleitung Medien beim "Falter"), die auch aus eigener Erfahrung weiß, was es bedeutet, online untergriffig angepöbelt zu werden. Man müsse sich dem Problem stellen, anstatt das Problem ewig mit Halbwahrheiten wie "Don't Feed The Troll" von uns wegzudrängen. Doch es geht in dem Buch nicht nur um das Problem von Aggression und Hass im Netz. Brodnig rollt das Prinzip der Anonymität zunächst historisch auf und bringt anschließend Beispiele, wie Anonymität dem Personen- und Datenschutz, dem Aufbau einer zweiten Identität aufgrund politischer Zensur und der Wahrung der Privatsphäre dient. Es wird klar gemacht, dass es hier nicht nur um ein soziales Problem geht, sondern die Gestaltung von Anonymität und Kommunikation im Netz zentral für gesellschaftlichen Austausch und demokratische Prozesse ist.
"Der unsichtbare Mensch - Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert" von Ingrid Brodnig ist im Czernin Verlag erschienen.
Ingrid Brodnig gelingt es gut, die vielen Facetten von Anonymität darzustellen ohne widersprüchlich zu werden. Anhand zahlreicher Beispiele aus den letzten Jahren wird deutlich gemacht, dass radikale Maßnahmen in Bezug auf Anonymität - egal, ob zu repressiv oder zu liberal - immer schlecht sind. Denn dann werden wahlweise Bürgerreche ausgehöhlt (Vorratsdatenspeicherung), die gesellschaftliche Debatte durch rohe Sprache vergiftet (der Verzicht auf Forenmoderation) oder Menschen werden in die Selbstzensur gedrängt (rigorose Klarnamenpolitik). Neben den recherchierten Fakten, Studien und Fallbeispielen, die zitiert werden, bringt sich Brodnig auch immer wieder selbst mit ihrer Meinung ein. Das überrascht beim Lesen anfangs etwas, dient aber als gute Brücke zwischen den einzelnen Kapiteln, die dazu anregt, sich selbst Gedanken zu machen und dabei die vielen Aspekte miteinfließen zu lassen.
Einseitige Lösungen sind immer schlecht
Czernin Verlag
Die Debatte um Gesprächskultur im Netz und Anonymität hat das Problem einer starken Lagerbildung: die einen meinen, dass sich keine Person mehr online hinter einem Pseudonym verstecken dürfe, die anderen fühlen sich sofort in ihrer Meinungsfreiheit bedroht, wenn etwa beleidigende Kommentare gelöscht oder gar nicht erst veröffentlicht werden. Die Lösung ist, wie so oft, der schwierig zu erreichende Mittelweg. Brodnig macht klar, dass unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit Menschen kein Recht haben dürfen, radikale Ansichten zu vertreten und andere Menschen mit Worten zu verletzen. Online-Redaktionen von Zeitungen und Magazinen etwa müssten sich ausgeklügelte Kommentararchitekturen überlegen, um sowohl ein gewisses Maß an Anonymität als auch gesitteten Umgang miteinander zu gewährleisten.
Ingrid Brodnig scheut nicht davor zurück, an manchen Stellen hasserfüllte Postings beispielhaft abzudrucken. Diese Stellen, die beim Lesen oft starke Emotionen auslösen, werden jedoch immer mit Fakten und konstruktiven Vorschlägen abgefedert. Es wird klar gemacht: Zu krasse Regulative sind keine Lösung, aber wir haben hier definitiv ein Problem. Vor allem die niederträchtige Untergriffigkeit, die Mädchen und Frauen im Netz oft erfahren (einer der besonders heftigen Fälle betrifft etwa die Popkulturforscherin und Feministin Anita Sarkeesian, FM4 hat berichtet), machen sprachlos. Natürlich: Jede und jeder, der online mit Name und Meinung auftritt, geht Gefahr, sich dem Mob auszusetzen - je schriller man selbst agiert, desto größer ist die Gefahr, auffällige Reaktionen zu bekommen. Hass und Häme sind jedoch selten wirklich gerechtfertigt. Man sollte sich selbst so gut als möglich psychisch gegen Kränkungen und Beleidigungen wappnen. Doch Störefriede bloß mit Nichtbeachtung zu strafen ändert am Missstand nichts.
Empfehlenswertes Grundlagenbuch mit Meinung
Mehr Leseempfehlungen auf fm4.ORF.at/buch.
Ingrid Brodnigs Buch ist neben der kommunikationspsychologischen Analyse und der ständigen argumentativen Abwägung der Vor- und Nachteile von Anonymität auch eine gute Zusammenfassung markanter Fälle und Themen, die Netzpolitik in den letzten Jahren hervorgebracht hat. "Der unsichtbare Mensch" ist auch für jene Menschen gut lesbar, die sich nicht tagtäglich mit Netzkultur beschäftigen, obwohl diese, wie Brodnig im FM4 Interview anmerkt, ja in Wahrheit so durchdringend ist, dass man schon lange nicht mehr von einer Nische sprechen kann. Grundlegende technische Begriffe wie IP-Adresse oder DDoS-Attacke werden einsteigerfreundlich, aber nicht zu langwierig erklärt. Der einzige Vorwurf, den man dem Buch machen kann, ist, dass keine unerwarteten Exkurse oder Vertiefungen angeboten werden. Dafür bekommt man eine klar formulierte Erörterung des komplexen Themas Anonymität im Netz geliefert, die wichtige Beispiele bringt und sich auch traut, mit behutsam gesetzten Argumenten selbst Meinungsmacherin zu sein.