Erstellt am: 1. 2. 2014 - 16:34 Uhr
Full Mental Jacket
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Die Erwartungen an „Der menschliche Körper“ dürften hoch gewesen sein, war doch Giordanos Debüt „Die Einsamkeit der Primzahlen“ (2008) ein in über vierzig Sprachen übersetzter Welterfolg. Zwischen den giftgrünen Deckeln des gut vierhundert Seiten starken neuen Romans lernen wir eine Gruppe junger italienischer Soldaten kennen, die sich im Auslandseinsatz in Afghanistan befinden. Der 32-jährige Autor reiste im Zuge seiner Recherche zweimal selbst nach Afghanistan, um die Lebenswelt der dort stationierten Soldaten kennenzulernen. Und das merkt man auch: Die Beschreibungen des Militärlageralltags, die Dialoge, der Soldatenjargon, all das wirkt authentisch und echt.
Zwei Fronten
Der Kriegseinsatz ist nur das umgebende Biotop, in dem Giordano seine Protagonisten ausgesetzt hat. Tatsächlich kämpft jeder von ihnen auch einen ganz persönlichen Krieg gegen die Geister der eigenen Biografie: Der medikamentenabhängige Militärarzt Egitto, Soldat Torsu, der sich in einer Internet-Beziehung mit einer Unbekannten befindet, der junge Ietri, der am Vorabend seiner Abreise im Arm seiner Mutter einschläft, der sadistische Macho Cederna, der gemobbte Mitrano, der pflichtbewusste Feldwebel René, der in seiner nebenberuflichen Tätigkeit als Callboy eine Kundin geschwängert hat, oder Zampieri, die einzige Soldatin des Bataillons - man kennt diese Typen, aus Filmen, aus anderen Geschichten, gewissermaßen sind sie Archetypen solcher Kriegsromane und -filme, und doch schafft es Giordano, sie nicht zu simplen Abziehbildern verkommen zu lassen, sondern sie psychologisch genau und plastisch zu zeichnen.
Unüberwindbare Barrieren
Rowohlt Verlag
Der Autor schreitet erzählerisch von einer Figur zur nächsten. Mit Einschüben wie Rückblenden, Emailkorrespondenzen und Chatprotokollen strukturiert er Vergangenheit und Herkunft seiner Protagonisten, und schon nach gut hundert Seiten hat man das Gefühl, die Charaktere sehr gut zu kennen - sie wachsen einem ans Herz. Alle scheinen von ihrem Leben zu Hause durch eine unüberwindbare Barriere getrennt zu sein. Ietrie, der seine Mutter am Telefon über die Gefahren des bevorstehenden Einsatzes belügt, Torsu, der an der Aufrichtigkeit seiner Internetbekanntschaft zu zweifeln beginnt, oder Cederna, der fast seine Freundin verliert, weil ihm der Heimurlaub gestrichen wird. Weder die Soldaten selbst, noch die Personen, die ihnen nahe stehen, scheinen einander verstehen zu können. Nur unter sich, in der Gruppe, scheint es unausgesprochenes Einvernehmen zu geben.
Alles geht schief
Giordano gliedert den Roman grob in drei Teile: Vor dem Krieg (vor der Abreise nach Afghanistan), im Krieg (in Afghanistan), nach dem Krieg (zurück in Italien). Vorher ist naturgemäß alles anders als nachher. Als die Soldaten einen afghanischen LKW-Konvoi durch feindliches Gebiet eskortieren müssen, geraten sie in einen Hinterhalt der Taliban (Giordano orientiert sich dabei an einem Tatsachenbericht). Fehler passieren, ein paar Dinge laufen schief und vier Soldaten sterben. Die Überlebenden sind traumatisiert.
Psychologische Landkarte
Eindringlich beschreibt Giordano im letzten Teil des Romans das Leben der Soldaten nach ihrer Rückkehr, ihre Versuche, sich in ihren früheren Leben vor dem Kriegseinsatz zurechtzufinden, und die entstandene Kluft zwischen den Soldaten und den Menschen, denen sie nahe stehen. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Besonders dieser Teil der Geschichte berührt, hin und wieder ertappt man sich beim Lesen kopfschüttelnd über die Seiten gebeugt. Selten sind Figuren einer Geschichte so greifbar, so nachvollziehbar in ihrem Ringen um einen Platz in einer Welt, die ihnen fremd geworden ist. Giordano wertet nicht. In „Der menschliche Körper“ entwirft er nüchtern und ohne Pathos eine Landkarte der menschlichen Psyche, und auch darauf sind Kriegsschauplätze eingezeichnet.