Standort: fm4.ORF.at / Meldung: ""Ukraine über alles" vs. "Ukraine ist Europa""

Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

30. 1. 2014 - 11:09

"Ukraine über alles" vs. "Ukraine ist Europa"

Die ukrainische Protestbewegung wird immer stärker von nationalistischer Rhetorik bestimmt.

Flaggen wohin das Auge blickt. Die Anti-Regierungsproteste in Kiew sind seit Beginn mit reichlich Symbolik aufgeladen. Unzählige ukrainische und europäische Fahnen wehen neben nationalistischen rot-schwarzen „Blut und Boden“-Flaggen. „Europa, Europa“-Rufe werden mit dem Slogan „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden“ beantwortet, unzählige Male schallt er täglich durch die Massen der Demonstranten. Er gehört heute ganz selbstverständlich zum Repertoire jedes Redners am Maidan, es ist das Mantra dieser Proteste, mit reichlich nationalistischen Untertönen.

Für viele der Demonstranten sind Slogans wie diese nicht viel mehr als Folklore, doch wird immer deutlicher, dass sich im Kern der Protestbewegung einige ultra-nationalistische Gruppierungen befinden.

Proteste in der Ukraine

APA/EPA/MAXIM SHIPENKOV

Von den politischen Parteien war von Beginn weg „Svoboda“ (Freiheit, inspiriert vom Namen der FPÖ) am präsentesten. Die rechtspopulistisch-nationalistische Partei hat ihre Machtbasis im Westen des Landes und entwickelte sich in den letzten Jahren rasch von den Tiefen der relativen Bedeutungslosigkeit zur vierstärksten Partei des Landes. Seit 2012 ist sie im Parlament vertreten.

Ihr Anführer, Oleh Tyahnybok, sorgte in der Vergangenheit mit antisemitischen Äußerungen immer wieder für Skandale. Mit scharfer Rhetorik wettert er von der Bühne am Maidan seit Wochen gegen die „anti-ukrainischen“ Kräfte in der Regierung. Im Rest von Europa wird vor allem Vitali Klitschko als Oppositionsführer angesehen, doch für viele Ukrainer ist es Tyahnybok, der den Protesten ein Gesicht gibt.

Mitglieder seiner Partei spielen eine Schlüsselrolle bei den Protesten. Sie waren es, die für den Sturz der Leninstatue verantwortlich waren, und sie sind es, die seit Monaten das Kiewer Rathaus besetzen. Sie waren es auch, die am Neujahrstag eine Fackelprozession durch Kiew anführten, zum Gedenken an den 105. Geburtstag von Stepan Bandera, der im Westen der Ukraine von vielen als Volksheld verehrt und im Osten von ebenso vielen als Nazi-Kollaborateur verachtet wird. Bandera war einer der Anführer der Ukrainischen Aufstandsarmee, die während des Zweiten Weltkriegs für eine unabhängige Ukraine kämpften, dabei auch mit Hitler-Deutschland kooperierten und in Massenmorde an Polen und Juden involviert waren.

An der Person von Bandera zeigt sich das Grundübel der immer wieder heraufbeschworenen Spaltung der Ukraine. Bis heute kämpft die junge Nation um ein gemeinsames Narrativ ihrer Geschichte, an den Frontlinien dieses Kampfes machen sich auf der einen Seite Ultra-Nationalisten, auf der anderen Seite Sowjet-Nostalgiker breit.

Die Revolution lässt diesen schwelenden Kampf immer stärker an die Oberfläche treten. Ultra-nationalistische Gruppen, denen sogar „Svoboda“ zu liberal ist, bekommen immer mehr Zulauf, wenn sie auch immer noch eine kleine Minderheit der Demonstranten darstellen. Je länger die Dauerdemonstrationen fruchtlos blieben, umso stärker radikalisierten sie sich. Es waren Mitglieder dieser Gruppen, die am Beginn der gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der ukrainischen Polizei standen und die nicht mehr glauben, dass der Konflikt friedlich zu lösen ist. Allen voran der so genannte „Pravy Sektor“ (Rechter Sektor), eine reichlich undurchsichtige und lose Gruppierung von ultra-nationalistischen und rechts-außen-Gruppen wie Trident, die behauptet, die Gewalt zu koordinieren. Viele Mitglieder sind Fußball-Hooligans, die nicht nur aus dem Westen, sondern auch aus russischsprachigen Gebieten im Osten der Ukraine stammen.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, den Gewaltausbruch nach zwei Monaten friedlicher Proteste nur auf diese Ultra-Nationalisten zurückzuführen. Viele der Demonstranten unterstützten deren Vorgehen. Alte Frauen bereiten abseits der Frontlinien Essen für sie vor, andere befüllen Flaschen mit Benzin, die als Motow-Cocktails dienen, wieder andere schlagen Pflastersteine aus den Straßen, die gegen die Polizisten geworfen werden. Hardcore-Nationalismus ist auch bei jenen, die in die Ausschreitungen involviert sind, nicht das vorherrschende Merkmal. Doch die Popularität des „Pravy Sektor“ nimmt zu.

Proteste in der Ukraine

APA/EPA/MAXIM SHIPENKOV

Die Ultra-Nationalisten halten nichts von einer Annäherung an Europa, der EU beizutreten wäre der Tod für die Ukraine, ließen sie in einem Statement verlautbaren. Sie sind nicht Pro-Europa, sondern Anti-Russland. Vorstellungen, die den Ideen der meisten Demonstranten diametral gegenüberstehen. All diese Menschen eint nur ein einziges Ziel: der Sturz des Regimes. Dafür werden auch irrsinnige Widersprüche in Kauf genommen. Das funktioniert auch deshalb, weil es schon lange nicht mehr nur um eine Annäherung an Europa oder Russland geht, sondern um das Ende einer korrupten und autoritären Machtelite.

Die Revolution hat trotz ihrer pro-europäischen Ausrichtung eine grundsätzlich nationalistische Schlagseite. In der Ukraine ist das allerdings kein Widerspruch. Im Gegensatz zu Ländern wie beispielsweise Österreich ist Patriotismus auch für progressiv denkende Menschen nicht negativ konnotiert. Ganz im Gegenteil ist das positive Bekenntnis zur Nation gerade für viele junge progressive Ukrainer Teil ihrer Identität. Ukrainische Fahnen zu schwenken, blau-gelbe Bänder an der Kleidung zu tragen oder die Hymne zu singen ist ein Ausdruck dessen. Gerade jene jungen Menschen, die das Rückgrat der Proteste darstellen und sich stark an Europa orientieren, sind die glühendsten ukrainischen Patrioten, ganz abseits eines politischen Links-Rechts-Schemas. Was in Österreich einigermaßen verstörend wirken würde, ist in der Ukraine Teil eines Emanzipationsprozess aus seiner Sowjetvergangenheit.

Dennoch besteht angesichts der aktuellen Entwicklungen das Risiko einer Radikalisierung der Demonstranten. Einige Ukrainer sehen die Gefahr, dass die Revolution von den Ultra-Nationalisten vereinnahmt werden könnte. Die nationalistische Rhetorik nimmt zu, Slogans wie „Ruhm der Nation! Tod den Feinden“ oder „Ukraine über alles“ sind immer öfter von den Demonstranten zu hören. Noch werden sie aber von den „Ukraine ist Europa“-Rufen übertönt.