Erstellt am: 20. 1. 2014 - 17:55 Uhr
The daily Blumenau. Monday Edition, 20-01-14.
Auch 2014, wie schon seit der Nationalrats-Wahl online: der Versuch das Journal in der Form von 2003, '05, '07, 2009 und 2011 durch ein kürzeres Format zu ersetzen, um so Täglichkeit hinzukriegen. Und das mit Items aus diesen Themenfeldern.
Gestern an dieser Stelle: Drei Denkfehler, Teil 1: das Jugendkultur-Paradox.
Es gibt kein "Twitter", nur den Blick der bösen Königin
#medien
Österreichs einzige seriöse Medienjournalistin (den anderen fehlt die Seriosität, den wieder anderen das journalistische) hat letzte Woche eine gegen den Trend schwimmende Geschichte (vor allem) über Twitter verfasst, die die Empörungskultur anprangert.
Mir geht es nicht um den inhaltlichen Ansatz, auch wenn er eine leichte Konterkarierung meiner letztwöchigen Polemik ist: ich sehe das meiste durchaus ähnlich.
Mir geht es um Ingrid Brodnigs Ansatz. Sie geht nämlich von etwas aus, von dem viele, eigentlich praktisch alle Autoren, Analytiker aber auch jeder beliebige Daherreder ausgeht: dass das was Social Media-Seiten wie Facebook und vor allem Twitter dem jeweiligen User anbieten, Aufschluss darüber gibt wie es geartet ist, das Medium.
Das tut es selbstverständlich nicht.
Nie.
Twitter und noch mehr Facebook liefern jedem User einen Spiegel mit dem, was er/sie zu sehen wünscht. In etwa so wie der Spiegel in Schneewittchen, der der bösen Königin erzählt, dass sie eh die Schönste ist; naja, zumindest bis halt das Schneewittchen daherkommt.
Wenn nun also Social Media sich bei User 1 wie eine pipifeine Gurkenmaske anlegt, User 2 mit seinen Empörungs-Strategien fertig macht und für User 3 nichts als ein endloses Feld nutzbringender Quellen darstellt, dann liegt das an den Einstellungen und der Wahl der Freunde und Verfolgten. Und die ist bei keinen zwei Profilen dieser Welt identisch.
Jeder gestaltet sich seinen Ausblick gänzlich selber. Das, was er/sie unbewusst an Spuren einfließen lässt, hat Folgen - ehschonwissn, der Algorithmus, die kommerzielle Verwertung, die spionierenden Beobachter. Aber: Jeder kriegt letztlich, was er/sie verdient.
Kein einziger, niemand, nicht Mark Zuckerberg und auch nicht Franky Twitterman bekommt das ganze Bild, sieht alles, kann also objektivieren was Twitter oder Facebook oder sonstwas tatsächlich im Innersten ausmacht.
Zudem: wirklich gefährlich werden die Aufgeregtheiten in Social Media ohnehin erst dann, wenn ein klassisches Medium, ein für alle one-to-one Einsichtiges, sich als Verstärker betätigt und die Empörung entsprechend kanalisiert.
Und so schön und erkenntnisreich Brodnigs Twitter-Analyse auch ist: sie muss im Privaten steckenbleiben, sie filtert einen bereits verengten Blick noch einmal. Die Wahrnehmung bleibt so streng subjektiv wie bei keinem anderen Medium sonst. Und auch die sogenannte heimische Twitter-Blase aus hauptsächlich Journalisten und politischen Experten hat keine Chance auf einen ansatzweise umfassenden oder gar objektiven Zugang.
Wir sind alle böse Königinnen. Gefangen in der eigenen Reflexion. Wehe uns, wenn wir sie für allgemeingültig halten.
Früher war nichts besser, heute sind die Erwartungen höher
#gesellschaft
Jetzt, wo ich den Kinderwagen einhändig rückwärts über die Bordsteinkante schieben kann ohne eine Miene zu verziehen, fällt es mir auf. So nett, so überkinderfreundlich, wie ich es anfangs überrascht festgestellt hatte, sind die Menschen gar nicht.
Anfangs, als ich noch wie mit und auf rohen Eiern gefahren bin, die rührende Unsicherheit des Anfängers ausgestrahlt habe, waren die Umwelt-Reaktionen erstaunlich: viel Hilfe, viel Vorlassen, viel spontaner Kontakt.
Heute bemerke ich: das alles (Freundlichkeit jeder Art) gibt es immer noch, aber auch das Gegenteil. Die rücksichtslosen Lift-Vordränger und die muffgesichtigen Handgriffverweigerer.
Sie sind mir aber nicht aufgefallen, so beschäftigt war ich mit der richtigen Navigation durch eine bewegungstechnisch völlig neue Welt, so sehr hab' ich mich von der ersten Reihe der Nettigkeit ablenken lassen.
Jetzt nehme ich wieder alles wahr und bin zurück aus der kurzzeitigen Welt der Glücksbärchis in der Wirklichkeit.
Das öffnet einige Fragen.
Etwa die, wie vorige Generationen in einer noch viel deutlicher kinderfeindlichen Umwelt mit stolpersteinmäßigen Hindernissen und im Klima einer barrierestarken Selbstverständlichkeit das alles geschafft haben.
Mühevoll.
Heute, wo wir um die Möglichkeiten der Verbesserung wissen, scheint es absurd, das alles jemals hingenommen zu haben.
Und da fällt mir dann der "Früher war alles besser"-Reflex ein, der so gern über die Geschichte der gesellschaftlichen Moral gegossen wird.
Hier haben wir also ein Beispiel, dass früher alles doppelt im Argen lag: Kinderunfreundlichkeit und Barriere-Unfreiheit existierte sowohl real als auch in den Köpfen. Heute hat sich in einem Bereich alles zu einem vielviel Besseren gewendet, während das andere weiter vor sich hinköchelt.
Trotzdem ist die heutige Gesellschaft, das wird jeder Stammtisch, jeder Altstar jeder Richtung, jeder Sloterdijk und jeder Khol bestätigen, verroht, eindeutig. Früher, die feineren Manieren, Anstand und alles - heute: nur plumpe Grobheit.
Abgesehen davon, dass die feinen Manieren eine Tochter der Zeit sind und auch als plumpe Grobheiten begonnen hatten: das heute deutlich lautere Genörgel über die Verrohung der Menschen hat nichts mit einer tatsächlich messbaren Tendenz zu tun.
Es entsteht aus der Diskrepanz.
Wir wissen heute, dass es soviel besser, eleganter, feiner, technisch gelöster gehen würde.
Wir kennen unser Potential.
Früher, in der diesbezüglichen Wüste, gab es keine Erwartungen. Als Kinderwagenschieber warst du einfach der G'fickte. Und bist gar nicht auf die Idee gekommen, dass es anders/besser gehen könnte.
Heute wissen wir, alle, dass in so gut wie jedem Bereich Verbesserungs-Potenzial da ist; dass es gehen würde, wenn alle/viele guten Willens wäre.
Und weil wir in fast allen täglichen Handlungen in dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität leben, werden wir zu greinenden Mieselsüchtlern.
Die Wirklichkeit bildet dieses stetige Genörgel nicht ab. Nichts ist schlechter als früher, in so gut wie allen Lebensbereichen. Ganz im Gegenteil. Nichts war früher besser, nein, nicht einmal der österreichische Fußball.
Der Denkfehler hinter der Unzufriedenheit, die sich hinter dem Früher-war-alles-besser-Modus verbirgt, geht von idealisierten Vergleichswerten aus, vergisst die Parameter der (eh auch damals keinesfalls geschätzten) Vergangenheit (die in ihrer Gegenwart auch garantiert die roheste aller Welten war) und stilisiert virtuelle Erwartungshorizonte zu einer Messlatte hoch, die gar nicht übersprungen werden kann.
Ich möchte den Kinderwagen lieber in der einer Realität des Erreichbaren, lieber im Vokativ als im Konjunktiv schieben.