Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Der ganze Wahnsinn namens Leben"

Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

16. 1. 2014 - 12:42

Der ganze Wahnsinn namens Leben

"12 Years A Slave" und "The Wolf Of Wall Street": Wenn Systeme mit der Urgewalt des Kinos hinterfragt und angeklagt werden.

Natürlich haben Kinobesucher ein Recht darauf, sich mit ihrer Karte kurzfristig aus dem zermürbenden Alltag herauszubeamen. Aber zu seiner Höchstform läuft das Medium Film meistens auf, wenn es nicht bloß dem puren Eskapismus huldigt, sondern sich vom ganzen Wahnsinn des Lebens inspirieren lässt, von Liebe, Sex und Gewalt, aber auch Arbeit, Entfremdung, Unterdrückung.

Klarerweise gibt es zu diesen Themen unterschiedlichste und im besten Fall widerspenstige und widersprüchliche Zugänge. Im Filmmuseum in Wien läuft derzeit etwa die faszinierende Reihe Thriller-Politik, die den italienischen und französischen Kriminalfilm der Siebzigerjahre beleuchtet, in dem sich Hochspannung, Terror-Paranoia und deprimierende Sozialbefunde ungezwungen verbinden.

Für die Lehrer während meiner Gymnasialzeit wäre dieser Ansatz wohl immer noch zu reißerisch gewesen. Sie predigten anlässlich von Schulvorstellungen über ein wertvolles Kino, gänzlich frei von jedem Schundbezug und voller Lebenslektionen. Und meinten damit meist nur brave Bildungsbürgerfilme. Das Pazifismusepos „Ghandi“ ist mir diesbezüglich in Erinnerung geblieben, andere Schüler wurden wohl in Scharen in „Schindler’s List“ oder "The Color Purple" geführt.

12 Years A Slave

Tobis

"12 Years A Slave"

Sklaverei revisited

Tatsächlich will ich solchen Filmen, wenn sie den Erstkontakt zu gewissen Materien darstellen, gar nicht ihren augenöffnenden Aspekt absprechen. Genauso wie die Serien „Holocaust“ und „Roots“ in einer weit zurückliegenden TV-Ära ganze Generationen in puncto geschichtlicher Grausamkeit sensibilisierten. Trotz oder gerade wegen ihrer schnulzigen Machart an der Grenze zur Historien-Soap-Opera.

Wenn in der Gegenwart aber ein Quentin Tarantino beide geschichtlichen Minenfelder, den Antisemitismus und die Sklaverei, in Meta-Trash-Kino wie „Inglorious Basterds“ und zuletzt „Django Unchained“ abhandelt, revoltiert er darin nicht nur gegen Nazis und Ausbeuter. Die Filme schreiben, vielleicht als bewusste Attacke gegen das erwähnte biedere Erziehungskino und -fernsehen, bewusst sämtliche Fakten um. Sie wühlen auf, mixen Schmerz und Entertainment, schlagen comichaft zurück.

Das kann aber trotzdem noch nicht alles sein, sagt sich der britische Regisseur Steve McQueen, als er über den Sklavenhandel und dessen filmische Aufarbeitung nachdenkt. Auf der einen Seite gut gemeinte Schmachtfetzen wie „Die Farbe Lila“, auf der anderen die grelle Tarantino-Verpackung, da muss doch noch etwas anderes möglich sein, ein seriöser und eindringlicher Film.

Während McQueen noch an seinem beklemmenden Sexsucht-Drama „Shame“ arbeitet, macht ihn seine Frau auf die Memoiren eines gewissen Solomon Northup aufmerksam. In seinem Buch „12 Years A Slave“ erzählt der Afroamerikaner, wie er 1841 aus dem freien Norden in die Sklaverei der Südstaaten verschleppt wird. Durfte er zuvor noch als Musiker arbeiten und mit seiner Familie relativ unbeirrt leben, wird Solomon nun in Ketten gelegt, zur Feldarbeit gezwungen, gequält und ausgepeitscht.

12 Years A Slave

Tobis

"12 Years A Slave"

Based on a true story

Als bekannt wird, dass sich der Regieextremist dieser Ausnahme-Autobiografie nähern wird, bringt das die Herzen von Vorfreude und Angst gleichermaßen zum Pochen. Steht der 44-jährige Brite, der zuvor schon die bildende Kunst aufmischte, doch für ein Körperkino, das Zuschauer unerbittlich einsaugt und malträtiert. Steve McQueen und die Sklaverei, da erwartet und fürchtet man wohl eine unendlich grausame, physisch spürbare Elegie des Horrors.

„12 Years A Slave“ verzichtet nun keineswegs auf die ungefilterte Konfrontation mit dem Schrecken, der Folter, der Lynchjustiz. Man fühlt bei diesem Film aber nicht nur das Gewicht eines unerträglichen Lebens auf den Schultern der Hauptfigur Solomon lasten. Der Eingangssatz „Based on a true story“ sorgt auch sichtbar für einen Druck der Verantwortung auf dem Regisseur. McQueen weicht deshalb bewusst vom radikalen Stil seiner bisherigen Werke ab und präsentiert in weiten Teilen klassisches Erzählkino, das mit vielen möglichst Zusehern kommunizieren will. Das diese Menschen auch bilden und über eines der finstersten Kapitel der US-Geschichte belehren will.

Wir sind da wieder am Anfang, beim „guten“ Film, der nach Schulvorführungen und Oscars schreit und nach Applaus für die herausragende Besetzung, allen voran Hauptdarsteller Chiwetel Ejiofor, die junge Newcomerin Lupita Nyong'o und den ewig intensiven Michael Fassbender.

Immer da, wo man aber Momente lang glaubt, jetzt ist aus Steve McQueen plötzlich Steven Spielberg geworden, bricht „12 Years A Slave“ aus dem konventionellerem Korsett aus. Brilliert mit überaus komplexen Figuren. Hält den Kitsch zurück. Dehnt den Schrecken und die Zeit aus, wie in einer unvergesslichen Bestrafungssequenz. Am Ende taumelte zumindest meine Wenigkeit dennoch etwas zerrissen aus dem Kino. Aufgewühlt, erschüttert und im Bewusstsein, einen wichtigen Film gesehen, aber wohl nicht den bislang besten des Regisseurs.

12 Years A Slave

Tobis

"12 Years A Slave"

Aus der Sicht der Wölfe

Vom schockierenden Opferkino aber weiter zu einer der kontroversesten, aber auch mutigsten Form sich an rabenschwarze Inhalte heranzuschleichen: Nämlich die aus dem Blickwinkel des Täters. Filme, Bücher, Songs aus der Perspektive des Bösen, wie auch immer man das definieren mag, riskieren zwar falsche Identifikation und ungewünschte Verherrlichung. Im besten Fall erlauben sie aber auch die psychologischen und sozialen Mechanismen hinter dunklen Machenschaften mehr zu durchschauen.

Ein Großmeister in dieser subversiven Disziplin ist Martin Scorsese, der uns in Jahrhundertfilmen wie „Mean Streets“, „Taxi Driver“ oder „Good Fellas“ diesbezüglich schon Kleinganoven, Amokläufer und Mafiosi als (Anti-)Helden vorsetzte. Nun knüpft der 71-Jährige Kinogott, nach soliden Thrillern und einem liebevollen Schlenkerer ins Kinderkino („Hugo“), endlich wieder an sein Paradeterrain an. Und zwar mit einer schier unbändigen Energie.

Gemordet wird in „The Wolf Of Wall Street“ nicht. Wenn, dann werden nur Bankkonten gekillt, Moralbegriffe und ethische Grundsätze eliminiert, Seelen vernichtet. Auch dieser Film ist inspired by true events und basiert auf einer gruseligen Autobiografie. Der Börsenmakler Jordan Belfort verdiente in seiner Hochphase mehr als 50 Millionen Dollar im Jahr, in dem er knallhart tausende Privatanleger mit forschen Sprüchen einwickelte. 2003 wurde der Wall-Street-Wolf, der unzählige, von ihm gedrillte Anlageberater beschäftigte, verhaftet und wegen Wertpapierbetrugs und Geldwäsche verurteilt.

Schon nach zwei Jahren wegen guter Führung entlassen, mutierte Belfort nicht nur zum erfolgreichen Motivationstrainer. Während Anleger immer noch auf gigantische Summen warten, ließ sich der abgefeimte Mr. Gewissenlos auch als Bestseller-Autor feiern. Dass Martin Scorsese nun diesem Typ ein überhöhtes Hollywood-Forum gibt, noch dazu mit Superstar Leonardo DiCaprio in der mittlerweile Golden-Globe-gekrönten Titelrolle, mag im Vorfeld ungut aufstoßen.

The Wolf Of Wall Street

UPI

"The Wolf Of Wall Street"

American Psychos

Die Wölfe der Wall Street: Zur Einstimmung auf "The Wolf of Wall Street": Sieben Banker, die Filmgeschichte geschrieben haben (Markus Keuschnigg)

Wenn der Film aber gleich vom Anfang an – einem Zwergenweitwerfen in einem Großraumbüro – einen irrlichternden Tonfall riskiert und die Wall Street mit dem antiken Rom gleichsetzt, dann wird bald klar: Hier geht es nicht um ein Denkmal für einen Millionenbetrüger. Sondern um einen gnadenlosen Rundumschlag gegen den Börsenrausch der Achtziger und Neunziger, gegen einen Way Of Life, gegen die Grundfesten des amerikanischen (Alb-)Traums.

Genial besetzt mit einem entfesselten DiCaprio als hysterischem Spekulanten-Raubtier, dem Fremdschämweltmeister Jonah Hill als dessen Firmenkompagnon und einem Ensemble von Charaktergesichtern, taucht „The Wolf Of Wall Street“ drei Stunden lang in die Abgründe des Brutalo-Kapitalismus ab. Man kann die ungehemmte Gier förmlich riechen, den Schweiß der Erregung, wenn illegale Geschäfte erfolgreich abgeschlossen und Partyexzesse zelebriert werden.

The Wolf Of Wall Street

UPI

"The Wolf Of Wall Street"

Auch wenn ein Feuerwerk geschmackloser Witze für permantes Amüsement sorgt und Martin Scorsese wie bei seinen Mobstern und Mördern auf Zeigefingerhaltungen verzichtet, ist mir doch schleierhaft, wie man den brachialen Tragiklamauk missverstehen kann. Drastischer präsentierte noch kein Film den Entgrenzungscocktail aus Geldgier, lustigen Zuckerl und teuren Prostituierten, der auf eine endlose Katerstimmung und die Finanzkrise der Gegenwart hinausläuft. Hätte ich dieses Meisterwerk schon vor zehn Jahren gesehen, meine damalige Bankberaterin wäre mit ihren blödsinnigen Fondsvorschlag keinen Milimeter weit gekommen.