Erstellt am: 13. 1. 2014 - 19:00 Uhr
Richtung Zukunft durch die Nacht
S. Fischer Verlag
"Die amerikanische Nacht" in der deutschen Übersetzung von Tobias Schnettler ist im S. Fischer Verlag erschienen.
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Die amerikanische Nacht oder Nuit americaine: so nennt man einen alten Filmtrick. Ein Filter vor der Kameralinse verwandelt Tageslicht in einen nachtblauen Himmel. Die amerikanische Nacht (im Original: Night Film) heißt auch der zweite Roman von US-Autorin Marisha Pessl: darin stößt man nicht nur auf dutzende falsche Fährten und Doppelböden, auch das Kino spielt in dem Schnitzeljagd-Thriller eine wichtige Rolle. Drei Menschen versuchen das Rätsel um den Mord an einer jungen Frau zu lösen. Dabei werden sie immer tiefer in eine unheimliche Welt hinein gezogen, in der Wirklichkeit und Fantasie ineinander rinnen und in deren Zentrum ein mysteriöser Regisseur schaltet und waltet.
Was auch immer Sie von Cordova halten, egal wie besessen Sie von seinem Werk sind oder wie gleichgültig es Ihnen ist - man muss sich gegen ihn zur Wehr setzen. Er ist ein Abgrund, ein schwarzes Loch, eine unbestimmte Gefahr, der erbarmungslose Ausbruch des Unbekannten in unserer überbelichteten Welt.
Stanislav Cordova ist so jemand wie der Thomas Pynchon des Kinos. Ein Phantom, das keiner kennt, das kaum jemand jemals gesehen hat. Seine Filme sind so grausam, dass sie die Zuseher in den Wahnsinn treiben können, heißt es. Um sein Werk hat sich ein Zirkel von orthodoxen Kultisten gebildet: in Kellergewölben organisieren sie Vorführungen und feiern ihren Meister. Durch diesen Mythen-Stadel rasen die Figuren in Marisha Pessls "Die amerikanische Nacht". Der Journalist Scott, der abgefuckte Hopper und die quirlige Nora versuchen den mysteriösen Tod von Cordovas Tochter Ashley aufzuklären.
S. Fischer Verlag
Hart gekocht
In bester Tradition des "Hard Boiled"-Krimis fahren sie durch die Nacht, folgen Spuren und treffen auf merkwürdige Zeugen. Und über allem schwebt der Geist von Ashley Cordova.
Ich war ein paar Mal aus dem Bett geklettert, um die Vorhänge zur Seite zu ziehen. Halb hatte ich sie dort erwartet, ihre schlanke Gestalt wie eine rote Schnittwunde im Gehsteig, den Blick mit harten schwarzen Augen auf mich gerichtet. Ich hatte sogar an meinem Verstand gezweifelt und mich gefragt, ob es nun soweit war: ob die mittelmäßigen letzten Jahre schließlich zum Zusammenprall mit der Realität geführt hatte und ich jetzt, da die Schleusen geöffnet waren, einer Armee der Finsternis gegenüberstehen würde. Die Ungeheuer würden einfach aus meinem Kopf hervorkriechen.
Marisha Pessls Hauptfigur Scott ist ein Wiedergänger aus dem uramerikanischen Genre des Hard Boiled-Krimis: Autoren wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett popularisieren in den Zwanziger- und Dreißiger-Jahren den Detektiv als Antiheld. Auch Scott verliert sich und seinen Verstand in dieser amerikanischen Nacht. Autorin Pessl hat hingegen kein Interesse am Kontrollverlust: auf den ersten zweihundert Seiten darf man noch selbst in abgedruckten Polizeiakten und Webseiten auf Spurensuche gehen. Irgendwann greift der ausgeklügelte Plot dann allerdings nach der Leserhand und lässt sie nicht mehr los.
Als ich hörte, wie das fünfte Holzbrett knackte, trat ich ein zweites Mal dagegen. Das Holz brach splitternd in der Mitte durch und fiel raus. Ich sah auf meine Füße hinab, mein Herz pochte. Ein rechteckiges graues Loch starrte mich an. Ich drehte mich sofort um und sah durch die Öffnung, doch meine Euphorie schlug schnell wieder in Erschrecken um. Da war kein Ausweg - bloß eine weitere Holzwand, nur sechzig Zentimeter dahinter. Was zur Hölle war das? Eine Hölle aus Särgen, die wie russische Matroschkapuppen angelegt waren, der Kleinste war im Nächstgrößeren und so weiter, bis ins Unendliche? Oder war das ein Psychospiel, das nach einem Gemälde von M.C. Escher entworfen worden war?
S. Fischer Verlag
Zitate und Referenzen
Schon in ihrem Debütroman "Die alltägliche Physik des Unglücks" hat Marisha Pessl oft auf Quer-Referenzen zurückgegriffen. In "Die amerikanische Nacht" zitiert sie Kubrick, Lynch und hunderte Andere und das ziemlich offensichtlich und in your face. Auf 800 Seiten wird das schnell ermüdend. Und dauernd hat man den Kopf voll von ähnlich gelagerten, aber deutlich besseren Romanen.
Die Britin Scarlett Thomas verquickt in ihren insgesamt sehr empfehlenswerten, wenn auch leicht verkopften Büchern kryptographische und sonstige Rätsel zu zeitgenössischen Identitäts-Staffelläufen, die die Naturwissenschaften ebenso streifen wie die Philosophie und Marketing-Strategien. Noch verstiegener gibt sich der Amerikaner Mark Z. Danielewski: in seinem experimentellen Horror-Roman "House of Leaves" schickt er den Leser nicht nur durch diverse inhaltliche Labyrinthe, sondern verwendet exzentrische Typografien, um das geschriebene Wort und seine Form selbst zu einem Rätsel - oder dessen Lösung (?) zu machen.
Im Vergleich zu diesen beiden Autoren zieht die junge Marisha Pessl den Kürzeren. "Die amerikanische Nacht" wirkt zu oft effektüberladen und spektakelsüchtig, ist in seiner manischen Bewegung - nicht zu verwechseln mit Beweglichkeit - mehr "Da Vinci-Code" als vertrackter Noir. Im Kern legt Marisha Pessl ein Stück Pulp-Literatur vor, das sie zum existenziellen Thriller aufgeblasen hat.