Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Gemeinsam besser durch die Nacht"

Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

12. 1. 2014 - 13:21

Gemeinsam besser durch die Nacht

Ernst Haffners neu aufgelegter Roman "Blutsbrüder" aus dem Jahr 1932 schildert den Überlebenskampf einer Jugendclique in Berlin. Exzesse, Gewalt und Prostitution sind ständige Begleiter.

"Berlin, dieses endlose, umbarmherzige Berlin kann man nicht allein bewältigen, um ihm das tägliche Minimum abzuringen".

Weitere Buchempfehlungen aus der FM4-Redaktion

Berlin platzt Anfang der 1930er aus allen Nähten. Vier Millionen Einwohner hat die Stadt, dazu ein Elendsheer an Großstadtvagabunden. Auch tausende obdachlose Jugendliche leben auf der Straße und versuchen sich durchzuschlagen: Waisen, Flüchtlinge aus Fürsorgeanstalten, repressiven Orten der Disziplinierung. Sie sind eine verlorene Generation, deren Geburt und Jugend in die Zeit des Krieges und Nachkrieges fiel. Deren Väter nicht von den Schlachtfeldern zurückgekommen sind und deren Mütter sich in den Pulver- und Sprengstofffabriken totgearbeitet haben.

Buchcover Blutsbrüder

Metrolit Verlag

"Blutsbrüder" von Ernst Haffner ist im Metrolit-Verlag erschienen.

Früh sind die Jugendlichen in Berlin auf sich allein gestellt. Um ihr Schicksal zu meistern, schließen sie sich zu Cliquen zusammen. Stellvertretend für die unterschiedlichen Cliquen stehen die "Blutsbrüder", deren Alltag der Journalist und wohl auch Sozialarbeiter Ernst Haffner in seinem 1932 erschienenen Roman "Jugend auf der Landstraße Berlin" beschreibt.

Der Kreislauf des Geldes

Zehn Jungen umfasst die Clique, die tagsüber in der Erwerbslosenhilfe oder in der Bibliothek abhängt, um den kalten Berliner Winter zu überstehen. Nachts gilt es eine warme Schlafstelle zu finden, doch die ist selten gratis. So besteht die Hauptaufgabe der Clique jeden Tag darin, Geld aufzustellen. Mal gibt es Arbeit am Markt, mal beim Schneeschaufeln. Gibt es keine Arbeit muss man ein krummes Ding drehen oder etwas verkaufen, die Uhr, die wärmende Jacke oder den eigenen Körper.

Kommt einmal Geld herein, wird es sofort in verruchten Berliner Kneipen ausgegeben, für möglichst billigen Alkohol oder andere körperliche Bedürfnisse. Sind sie kurz zuvor selbst anschaffen gegangen, nehmen sie später selbst die Dienste von Prostituierten in Kauf, für zehn Mark macht es eine mit allen.

Schicksal ohne Ausweg?

Es sind teilweise erschreckende Szenen, die Haffner aus dem Alltag der Blutsbrüder schildert. Exzesse, Gewalt und Prostitution sind deren ständige Begleiter. Der Erzähler verfolgt das Schicksal der einzelnen Blutsbrüder, bei denen sich früher oder später die Frage stellt, ob sie in die Gesellschaft zurückfinden oder in die Kriminalität abgleiten.

Ernst Haffner hat einen beeindruckenden Reportageroman über diese prekäre Zeit geschrieben, in der Wohlstand äußerst ungerecht verteilt ist. Die Vermögenden haben volle Warenhäuser und Schaufenster für sich, die Armen nur ihre Solidarität.

Wenn Haffner die Zustände auf den Berliner Straßen schildert, wirkt er teilweise sozialromantisch in seiner Verklärung der Cliquen und ihrem Zusammenhalt, manchmal auch moralisierend, wenn er den Geiz der Reichen anprangert oder die Situation in den Fürsorgeheimen. Verwunderlich ist auch, dass er Politik komplett ausblendet. Obwohl Berlin kurz vor Hitlers Machtübernahme steht, liest man kein Wort von SA oder Gegenbewegungen und gerade die Cliquen sind die Punks der damaligen Zeit gewesen, politisch links orientiert. Haffners Roman wurde dennoch von den Nazis verboten.

Dass der Roman aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise nun ausgerechnet in den Nachwirkungen einer anderen Krise unter dem Titel "Blutsbrüder" neu veröffentlicht wird, lädt dazu ein, über Parallelen nachzudenken und zu überlegen, wohin eine hohe Jugendarbeitslosigkeit führen kann, vor allem im Wissen darüber, welche Zeiten nach Haffners Roman angebrochen sind.