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Boris Jordan

Maßgebliche Musiken, merkwürdige Bücher und mühevolle Spiele - nutzloses Wissen für ermattete Bildungsbürger.

7. 1. 2014 - 14:05

"Grenzüberschreitungskickwahnsinn"

New-Wave-Chronist Jürgen Teipel hat in "Mehr als laut" die erste Generation des deutschen Techno interviewt und zeichnet ein Bild von Entgrenzung und Ekstase in der deutschen Provinz.

Jürgen Teipel konnte einem schon mal leid tun. Als ich den Journalisten und Autor vor einer Ewigkeit zu seinem neuen Buch "Verschwende deine Jugend" interviewte, hatte er mir noch begeistert von der Punk-Generation und seinen Begegnungen mit Prominenten und Ausgestiegenen der Szene berichtet. Kurze Zeit später war sein Buch durch die Decke gegangen, es folgte ein kleiner Hype, eine öde Verfilmung und die Reunion von DAF und den Fehlfarben (oder vielleicht war die auch zufällig gleichzeitig), sowie der Vorwurf, er hätte die unkommentierte Dialogform (den "virtuellen runden Tisch") ohnehin von Legs McNeill geklaut, dem mutmaßlichen Erfinder der Bezeichnung "Punk" für die Bewegung. Jürgen Teipel, für den das Buch eine Art Abschluss mit seiner eigenen Punk-Vergangenheit bedeutet hatte, schien nun für immer dazu verdammt, Chronist der Generation von 1978 zu sein.

Alle Vorschläge, doch wie gewohnt weiter zu machen und etwa Bücher über Punk-Impresarios oder die Hamburger Schule zu schreiben, hat Teipel abgelehnt. Was nicht hieß, dass seine Liebe zur Oral History von der Straße, zu "Grassroots"- Jugendbewegungen, erzählt von ihren Protagonistinnen, zu Ende gewesen wäre. Noch sein Talent, zu seinen Gesprächspartnern eine Vertrauensbasis aufzubauen, sodass sie ihm detailreich und ehrlich über sehr intime Momente und Gedanken berichten.

Nun also mehr als laut

"Mehr als laut" ist eine von ProtagonistInnen selbst erzählte Geschichte der frühen Techno-Szene in Deutschland. Und dabei hat sich Teipel - neben dem Aufschreiben von anekdotenreichen und kurzweiligen Erlebnissen - zwei große Verdienste erworben. Er skizziert, genauer als vergleichbare Schriften, zwei Felder, die sonst eher vernachlässigt werden: Das Partyleben in der Provinz und das Verhältnis der Bewegung zu ihren Protagonistinnen.

"DJanes"

Die DJ Culture hatte stets einen machistischen Hautgout. Die Bilder von Frauen in der Clubkultur erschöpfen sich in ihrer Darstellung in sexy Visuals oder Background-Getanze, akustisch in Vocal Samples oder soulfullen Stimmen, in einschlägigen populären Tracks stöhnt und sext es, dass sich Serge Gainsbourg im Grab umdreht. Die "Skills", das Publikum mittels perfektem Beat in ekstatische Höhen zu treiben, werden von den Regler-Jungs schon mal augenzwinkernd, hähä, an der Anzahl der bewegten weiblichen Körper gemessen.

In "Mehr als laut" erzählen die DJs (und nicht: "DJanes") Acid Maria, Bianca Girbinger, Stella Stellaire und Inga Humpe, wie ihnen technische und musikalische Kompetenzen abgesprochen werden, von ihren Canossa-Gängen in lokale Plattengeschäfte, von der dauernden Verwechslung mit den "Freundinnen der DJs", von der Angst, die Männer im Clubkontext vor Frauen an den Reglern haben, und wie diese auch schon mal in Aggression umschlagen kann. Aber sie erzählen auch von der Bewunderung durch weibliche Musikfans und dem guten Gefühl, sich wie von selber in einer Pionierrolle zu fühlen, ohne viel anderes gemacht zu haben als die ganzen Männer.

Die Stimme, die "Mehr als laut" den launigen Erzählungen und dem spitzen Humor von Acid Maria und Inga Humpe gibt, ist ein großer Lesespaß, das außergewöhnlichste Feature in dem Buch.

Buchcover mit Fotografie von Wolfgang Tillmans. Mit Blitzlicht aufgenommen. Frau mit geschlossenen Augen, halb geöffnetem Mund und Ohrring wird der Kopf von zwei Männerhänden umschlossen.

Suhrkamp Verlag / Wolfgang Tillmans

"Mehr als laut" ist im Suhrkamp Verlag erschienen, das Foto am Cover ist von Wolfgang Tillmans.

Peripherie

Die zweite große Leistung von "Mehr als laut" ist die korrigierende Verortung dieser Szene, die hier allein durch die Auswahl der GesprächspartnerInnen schon gegeben ist. Auch Detroit oder Frankfurt, die mythischen Gründungsmetropolen des Techno, sind nicht gerade die Nabel der Welt, sind nicht London, New York oder Tokyo, aber Jürgen Teipels Buch entführt uns in Gegenden, wo die Pionierleistung der frühen Raves noch mehr gegriffen haben dürfte, als in den Zentren von Kultur, Mode und Glamour: Heidelberg, Mannheim, Karlsruhe, Freiburg, Regensburg, verschlafene Käffer im mitteldeutschen Niemandsland, wo es auf persönliche Kontakte zu anderen Musikverrückten ankam und darauf, dass ein wild entschlossener Bäckersohn in irgendwelchen Lagern illegale Parties veranstaltet hat, zu denen Tanzwillige ewig angereist kamen. Auch gab es einmal in jedem Dorf den einen Punk, Raver oder Homo, dieses persönliche Engagement, die erfahrene Ausgrenzung und das damit erzeugte Gefühl der Zusammengehörigkeit sind der Stoff, aus dem Jugendbewegungen waren, mehr noch in der Zeit vor ordentlichem Internet und der selbstverständlich gewordenen Vernetzung und Kommunikation.

Genannter Bäckersohn etwa, Dirk Mantei, Gründer des legendären Mannheimer "Milk" berichtet über allerlei biedere Probleme, vom Klopapier Organisieren bis zu Problemen mit den Zuhälter-Clubbesitzern, die er immer wieder auf sich nahm, nur wegen der Musik und dem Hochgefühl, das ihm jede Nacht aus dankbaren Augen der weitgereisten (und meist bis obenhin breiten) Jugendlichen anlachte.

Diese Mischung aus Momentum und Verklärung, aus Improvisation und Pioniergeist, das beschriebene Gefühl, die paar Leute um einen herum, die nur im Jetzt tanzen wollten, seien das Coolste auf der Welt, der Mittelpunkt von allem und man selbst der Mittelpunkt von ihnen - das ist auch ein großes Lesevergnügen, die zweite Außergewöhnlichkeit von "Mehr als laut".

Und als dritte chronistische Leistung hat Teipel seine Erzählerinnen auch noch einmal befragt, Jahre nach den ersten Interviews, nachdem sich ihre Situation geändert hatte, nachdem Kinder und Berufe in die Partybiografie eingedrungen sind. Und anders als die Punks von "Verschwende deine Jugend" spricht hier eine entspannte, nicht desillusionierte Generation, nicht übertrieben nostalgisch und immer noch von dem Zauber und der Unity begeistert, die diese Musik - egal ob als Tänzerin oder DJ - zu erzeugen vermag.

Kolumbien, Mexiko und Dekadenz

Bis auf einige gewohnt geistreiche und auch politisch kluge Sätze von Hans Nieswandt oder gute Witze von DJ Koze (von ihm stammt das Titelwort vom "Grenzüberschreitungskickwahnsinn") geht es in "Mehr als laut" dann auch wieder recht öde und berechenbar zu.
Die endlosen Erzählungen von Sonnenaufgängen, ekstatischen Tanzmassen, Jetlags oder Flughafenwartesälen, von der "Echtheit" der Lateinamerikaner (... warum etwa dem kolumbianischen Veranstalter der Wasserfall bei Medellin, an dem er den Rave veranstaltete, gleich gehören muss, scheint den DJ nicht zu wundern oder gar abzustoßen ...), von der Musik als universeller Sprache und (obwohl das Wort nicht vorkommt, worauf Jürgen Teipel andernorts wert legt) der Macht über die riesigen Menschenmassen, die der DJ sozusagen im Finger hat ... All das hört man dauernd von Ravetouristen, Goa-Deppen, Trancetrippern und sehr oft von alten Rockstars, Guetta- DJs oder Veranstaltern, die in die weltweite Maschinerie zwischen Red Bull und Eristoff einbezogen sind.

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Und diese Sachen zeigen auch, wie weit sich Techno seit den Anfängen von der urspünglich unhierarchischen und für jedermann verfügbaren demokratischen Kulturidee weg in Richtung des Elitären, Kommerziellen und Starrummelhaften, der ausschließenden Türsteherwillkür und der Erlebniswelt der geistlos chapagnisierenden HotelerbInnen entwickelt hat. Somit ist auch dieser Teil der Szeneentwicklung dokumentiert - und das Buch doch alles in allem gelungen.