Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Orwell never outsourced"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

30. 12. 2013 - 15:52

Orwell never outsourced

Verfolgt vom Phantom der Staatsmacht und umgarnt von Dienstleistungen klickte der Westentaschen-Dissident auch 2013 noch eifrig auf "Accept".

Rewind 2013

Der FM4 Jahresrückblick

Wozu eine Jahresrückblickgeschichte schreiben, wenn man stattdessen den Rest von 2013 am Konstruktivsten damit verbringen könnte, den gesamten FM4-Feed von Erich Möchel von vorn bis hinten noch einmal zu lesen?

Bzw. wenn Günter Hack in seinem Text Der Ekel vor dem Netz schon so eloquent und nachfühlbar die emotionale Schlussfolgerung zu jenen in Möchels Blogs aufgezeichneten, wenig appetitanregenden Blicken unter die Bauchdecke des Internet auf den Punkt gebracht hat?

Tschuldigen daher die Hybris, zu glauben, ich hätte all dem noch was hinzuzufügen. Aber ich musste immer wieder an einen kleinen, in Klammer gesetzten Nebensatz in Daniel Soars' demystifizierender, in ihrer blasierten Unaufgeregtheit allerdings auch ziemlich erschöpfender Geschichte über die interne Bürokratie der NSA und ihre Funktionen Ende Oktober im London Review of Books denken. Was an der mutmaßlichen Kollaboration von Konzernen wie Google oder Apple mit dem Geheimdienst so verblüffend gewesen wäre, schrieb Soars, sei die Vorstellung, dass diese ausgerechnet ihr kommerziell wichtigstes Kapital, das Vertrauen und die Daten der Kundschaft, freimütig einer staatlichen Agentur preisgeben würden: “(Ayn Randist libertarian capitalists don’t like government.)“

Stimmt. Aber Ayn-Randist_innen leben per Definition auch nur in einer krausen Fantasiewelt, selbst wenn sie von Berufs wegen ein bisschen die Welt beherrschen.

Tatsächlich ist die NSA ein Feindbild, das sowohl traditionell linke als auch (nach angloamerikanischer Tradition libertär) rechte Instinkte gegen sich vereint. Aber die 2013 populär gewordene Darstellung des industriellen Abzapfens von Daten als orwellianischer Eingriff der Hydra Staat in die Freiheit des Individuums ergab im gesellschaftlichen Zusammenhang der fortschreitenden Entmachtung des Staates ungefähr soviel Sinn wie die Festrede einer Tea-Party-Versammlung.

War der in diesem Jahr vom Erben der Bürgerrechtsbewegung zum sinistren Oberschnüffler gemorphte Obama denn nicht genau derselbe Präsident, der intern wie extern nicht einmal das kleinste Eitelkeitsprojekt durchzusetzen vermochte? Wieso tasteten da seine Millionen Tentakel so hilflos im Leeren? Und selbst wenn man verschwörungstheoretisch an eine mächtige Clique im Apparat glauben mochte, die in Wahrheit statt ihm die Fäden zog: Werden nicht überall in der westlichen Welt Staatshaushalte zu Instrumenten der Bankenrettung und verdeckter Subventionen des Finanzmarkts zurecht geschrumpft? Wird denn nicht gerade ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU ausgehandelt, das multinationalen Konzernen das Recht gibt, Staaten auf Verdienst-Entgang zu klagen, falls diese all ihren Aktivitäten nicht widerspruchslos Tür und Tor öffnen? Ist es wirklich denkbar, dass ausgerechnet in diesem Klima der zur Lachnummer degradierten Politik, nach Jahrzehnten der neoliberalen Deregulierung, die staatliche Kontrolle der Bevölkerung eine weder im Faschismus noch im alten Ostblock je erreichte Hochblüte erfährt?

Oder war ein Richter William Pauley, der sich in seinem Freibrief für die NSA nach all den Geschichten über das Ausschnüffeln von befreundeten Regierungen, Hilfsorganisationen etc. erst recht wieder auf die alte Anti-Terror-Leier berief, nicht viel eher eine aufgeblasene Version des klassischen Security-Beamten an der Röntgenschleuse vor dem Boarding Gate, der in debilem Pflichtbewusstsein volle Nutella-Gläser in den Müll schmeißt?

Wie wir selber weiß auch der gehorsamste Security-Beamte tief in seinem von Vorschriften verschütteten Innersten, dass die irrationalen Handgepäckvorschriften beim Fliegen in Wahrheit nicht unserem Schutz, sondern dem Geschäft der ihn versorgenden Wachdienst-Industrie und der Flughafen-Shops dienen. Ist in Zeiten des Outsourcing analog dazu nicht auch der Industriezweig Geheimdienst längst weniger Instrument staatlicher Kontrolle als von der Macht des Gesetzes gedeckter Spielplatz ganz anderer ökonomischer Interessen?

Wie viel an der NSA, von der alle faseln, ist überhaupt wirklich die NSA? Wie hier nicht zum ersten Mal betont, war etwa Edward Snowden bekanntlich nicht NSA-Agent, sondern Angestellter eines ihrer vielen privaten Vertragspartner - einer von 26.000 Mitarbeitern der auf lukrative Regierungsaufträge spezialisierten Firma Booz Allen Hamilton.

Ein ganzer Rattenschwanz solcher Vertragspartner frisst sich im Zeichen einer politisch geschürten Paranoia mit öffentlichen Geldern am Security-Overkill fett, und selbstverständlich stellt der Zugang zu sensibelsten Daten, den Snowdensgleiche (geschätzte 800.000 Leute, aber ganz genau weiß das bezeichnenderweise niemand) genießen, ein vielfach höheres Sicherheitsrisiko dar als zum Beispiel die vorsichtigen Enthüllungen des Guardian, denen die britische Regierung im August mit der völlig sinnlosen, aber symbolträchtigen Vernichtung von Redaktions-Computern begegnete.

Angesichts der engen Verschränkung von staatlicher Macht und privaten Interessen - insbesondere im angloamerikanischen Raum - sollte man davon ausgehen, dass die Früchte all der industriellen Überwachung keineswegs bloß, ja nicht einmal vorrangig der archaische Dämon Staatsapparat erntet.

Wo immer Daten im großen Stil gebündelt werden, finden sich Käufer_innen. Überwachungstechnologie bietet reichlich Potenzial zur geschäftlichen Nutzung, vom gewöhnlichen, kriminellen Identitätsdiebstahl bis zur Gesundheitsversicherung, die sich für den Lebenswandel, das Erbgut und die Krankengeschichten ihrer Versicherten interessiert; genaueres nachzulesen im jüngsten Bericht des Committee on Commerce, Science and Transportation des US-Senats über das florierende Schattengeschäft der Data Broker.

Man schmeichelt sich ja gerne selbst in seiner sozialen Medienexistenz, in der man als Westentaschen-Dissident per Statusmeldung Manifeste und Proteste in die Welt hinausbläst. Allesamt sind wir gefährliche Subversive, jetzt bestätigt in unserem Narzissmus durch das Wissen, dass unsere luziden, das System bedrohenden Ergüsse dem amerikanischen Geheimdienst lesenswert erscheinen.

Und doch ist es wohl wahrscheinlicher, dass sich unter den rund 799.999 anderen potenziellen Snowdens, die nicht Edward heißen und nicht zum Guardian und zur New York Times laufen, die Mehrzahl weniger für unsere politischen Ansichten interessiert als für unsere kommerziell motivierte Manipulation als Konsument_innen.

Das macht die Konsequenzen unserer flächendeckenden Überwachung natürlich nicht harmloser, ganz im Gegenteil:

Am Ende bleibt schließlich nur ein methodischer Unterschied zwischen einem geheimdienstlich angezapften Glasfaserkabel und irgendeiner Gratis-App, der blauäugige Naturen freimütig Zugang zu ihren gesamten Adresskarteien gönnen, oder Menschen, die mit Google Glass vorm Gesicht als willige Informationssammler_innen durch die Gegend laufen.

Was auf der einen Seite ein Abhörskandal ist, präsentiert sich auf der anderen immer noch kuschelig und hilfreich als die sanfte Software, die dich als Kunde kennenlernt, um besser deinen Vorlieben gerecht werden zu können. Mit jedem Login und jedem Sign-Up wird die Cloud um deinen Kopf einen Deut dichter, die Blase, in der du lebst, ein Quäntchen enger, die Möglichkeit, dass irgendwas, das dich an Information erreicht, irgendeinen Geheimdienst irritieren könnte, immer unwahrscheinlicher, die Versuchung, vom dir empfohlenen Weg durch deine Stadt zur dir angeworbenen Adresse abzuweichen, ein Stückchen geringer.

Das weiß vermutlich eh jedeR, bevor er/sie wieder einmal der Bequemlichkeit zuliebe trotzdem auf "Accept" klickt und seine Paranoia dem bewährten Mythos Big Brother überlässt. Aber ich wollt's eben dazu gesagt haben. Ansonsten ein schönes neues Jahr.