Erstellt am: 25. 12. 2013 - 15:00 Uhr
Weihnachtsreise
Sie waren das ganze Jahr brav bei der Arbeit unter dem strengen Blick ihrer Vorgesetzten, oder haben die Bänke der Unis gedrückt. Jetzt fahren sie „nach Hause“. Während ihr das lest, rollen hunderte von Bussen auf den Straßen Europas. Sie sind voll mit lächelnden Menschen. Sogar wenn man kein Lächeln auf ihren Gesichtern sieht, geht es ihnen innerlich prima. Die meisten erwarten die langersehnten Treffen mit ihren Liebsten, die sie zurücklassen mussten. Sie erwarten mit Freude die freudigen Gefühle, die ihr Kommen auslösen wird. Alle erwarten sie mit Liebe. Liebe, die vielen von ihnen das ganze Jahr fehlt.
APA/HERBERT NEUBAUER
Die Migranten werden Geschichten über ihr Leben im Exil erzählen. Sie werden mehr angeben als sich zu beklagen. (Ihre Verwandte müssen ja wissen, dass es sich gelohnt hatte, im Ausland sein Glück zu suchen.) Einige werden ein bisschen lügen, ihre Geschichten verfeinern. Sie werden ihre Häuser aus Schokolade neben den Flüssen aus Gold beschreiben. Die älteren Zuhörer dieser Geschichten werden erstmal ungläubig mit ihren Köpfen wackeln, ihnen dann aber doch Glauben schenken. Die jüngeren werden die Zähne zusammenbeißen, weil sie nicht den Mut gehabt hatten, auch in der schönen weiten Welt ihr Glück zu suchen. Die Kinder werden gespannt nach ihren Geschenken greifen und ihre Vorstellungskraft wird eine Welt zeichnen, wo jeder Tag ein Feiertag ist und an jeder Ecke bunte Spielzeuge verteilt werden.
Danach werden sich alle an den Weihnachtstisch setzen. Auch wenn die Verwandten nicht so reich sein mögen, gibt es auf dem Tisch alles, was der Gast liebt. Sie sind froh, dass sie ihrem „Migranten“ Freude bringen können. Sie sind glücklich, ihm diesen Spaß zu gönnen. Er oder sie ist glücklich, dass er das Zentrum der Aufmerksamkeit ist. Alle lieben sich. Es ist Weihnachten und wie wir alle wissen, passieren zu Weihnachten Wunder.
Nach einigen Tagen werden sich die Busse dann auf die Rückreise machen. Und die Gesichter der Migranten werden wieder lächeln. Die Feiertage werden vorbei sein und vor ihnen steht das neue Jahr, erfüllt mit Arbeit. So seltsam! Als sie zu ihren Geburtsorte gereist sind, haben die Migranten geglaubt, dass sie „nach Hause“ fahren. Und jetzt fühlen sie sich wieder so.
Frohe Weihnachten!