Erstellt am: 24. 12. 2013 - 13:10 Uhr
Das Fragmenthafte der Kultur
"Menschen sehen nur selten so aus, wie man es erwartet, selbst wenn man Fotos von ihnen kennt." (Tweet #1)
Dieses Buch imitiert das digitale Lesegerät.
Es ist schwarz, hat die Größe eines handflächengroßen Tablets. Die Ränder der Seiten sind ebenfalls schwarz, innen verbergen sich säuberlich voneinander getrennte Absätze, keiner länger als 140 Zeichen. Jede dieser Textpassagen kann für sich selbst stehen. Wo normalerweise das Lesegerät das Buch imitiert, ist hier alles auf Besitzer/Leser von Smartphones und Tablets ausgerichtet. "Black Box" ist ein Twitter-Roman.
Das Spiel mit den fragmenthaften Daten setzt sich im Inneren fort: Die Geschichte dreht sich um eine namenlose Geheimagentin, die sich in einer nicht näher definierten Zukunft freiwillig dazu bereit erklärt hat, geheime Daten von Verbrechern auszuspionieren. Und zwar, indem sie als menschliche Black Box fungiert, die Erinnerungen wie ein USB-Stick abspeichert und diese mit bereits vorhandenen (= ihren eigenen) verknüpft. Dies kommt praktisch einem digitalen Schnitt in die Pulsadern gleich, sowohl Spionin als auch Ausspionierter legen sensible Daten frei. Wer Analogien zu gegenwärtigen Daten-Skandalen feststellt, ist ein Schelm.
New York Times
Talkin' bout a revolution ...
Schöffling & Co
Zuerst zur Form:
Mediale Revolutionen kommen zumeist schleichend. Daher verwundert es wenig, dass auch digitale Lesegeräte am E-Book-Markt zuallererst das Buch imitieren, um Medienbrüche und -übergänge für ihre RezipientInnen zu erleichtern. Von der Größe der Lesefläche über die Handbewegung des Blätterns bleiben Relikte des analogen Leseverfahrens, die den Wechsel zur Digitalität weit weniger drastisch erscheinen lassen, als dies eigentlich der Fall ist. Die Schutzhüllen der E-Reader geben einem noch ein Gefühl, das zumeist fehlt: ein Buch auch öffnen und wieder schließen zu können.
Dies ist auch noch bei "Black Box" von Jennifer Egan der Fall. Bis auf die Tatsache, dass die Pulitzer-Preisträgerin, die mit "Der größere Teil der Welt", zu eben jenem Ruhm fand, die Geschichte nie in Buchform angelegt hatte. Die einzelnen Textpassagen über einen weiblichen Datenhybrid, der sich körperlich (daher auch sexuell) anderen hingibt, wurde in seiner Fragmenthaftigkeit getwittert. Erst als die gesamte Geschichte vollendet war, wurde sie vollständig zwischen 4. und 11. Juni 2012 in der New York Times veröffentlicht. Erst danach kam das Buch auf den Markt, was auch aus Sicht der Wertschöpfungskette nicht uninteressant ist.
New York Times
... sounds like a whisper
Dann zum Inhalt.
Die Gefahr solcher Formexperimente liegt auf der Hand: Sie lenken von der eigentlichen Geschichte ab, die bestenfalls mit der Form verschmelzen sollte. Dies ist hier der Fall, doch ganz anders, als die Autorin sich das vielleicht anfangs gedacht hatte.
Weitere Leseempfehlungen:
Die Story um eine Geheimagentin, die ihren Körper (freiwillig) als Black Box zur Verfügung stellt, ist ungemein clever und eine Referenz auf digitale Realitäten. Nicht umsonst beschäftigt sich der erste Tweet mit Fotos, die nur ganz selten der realen Konstruktion entsprechen. Dass wir durch digitale Inszenierungen (freiwillig) selbst zu schwarzen Kästen werden, die das im Netz aufgesammelte Datenmaterial neu sortieren und verbreiten und damit im (besten/schlechtesten) Fall uns selbst neu konstruieren, ist bei Jennifer Egan der Verweis auf das Fragmenthafte von Kultur an sich. Anders ausgedrückt: Die Autorin legt nahe, dass unsere Kulturen dermaßen brüchig sind, dass digitale Revolutionen, die wohlgemerkt schleichend auftreten, diese vollständig auslöschen und mit neuen Inhalten befüllen. Dass Egan zur Übermittlung ihrer Botschaften Twitter-Nachrichten verwendet, macht ihren Weg so genial. Frei und demokratisch, jedoch schon fragmenthaft, strukturell vorgegeben und eingeschränkt, unterliegt Kommunikation auf Twitter Selbst- und Fremddisziplinierung zugleich. Und eröffnet schon allein deshalb literarische Leerstellen, die es zu füllen gilt.
In Egans Story ist das Sammeln von Daten ein moralisch verwerflicher Job, der Selbstaufgabe zur Voraussetzung macht.
Im echten Leben ist das wohl genauso.