Erstellt am: 26. 12. 2013 - 13:21 Uhr
Der Ekel vor dem Netz
Rewind 2013
Der FM4 Jahresrückblick
Wann genau es körperlich geworden ist, weiß ich nicht mehr. Irgendwann im Sommer, nach irgendeiner Snowden-Enthüllung fühlte es sich plötzlich eklig an, den Notebookdeckel zu heben, es war, als würde man einen Stein im Garten herumwälzen müssen, unter dem es wimmeln würde. Einloggen in Google oder Twitter hatte plötzlich etwas von einer Kontrolle an der Grenze zu einem totalitär regierten Staat, Gestank nach Waffenöl und Leder, Schäferhundschnauze im Schritt.
EPA/GLENN GREENWALD / LAURA POITRAS
Einige Geheimdienste und Unternehmen haben sich zum großen Menschenrechte-Fracking verbündet. In der Gier nach Daten verlieren sie die letzten Hemmungen, vergessen Anstand und Verfassung. Verkauft wird das alles unter dem Label "Realpolitik". Wer übers Internet kommuniziert, wird abgelauscht, registiert, abgespeichert, nach allen Regeln der Kunst erkennungsdienstlich behandelt. Sie wollen alles und zwar mehrfach: Reisedaten, Mobilfunkstandort, das Netzwerk persönlicher Beziehungen. Die Speicherfristen bestimmt nicht ein Gesetz, sondern der Preis für die Serverfarm. Was technisch machbar ist, wird durchgeführt.
Konzerne und Geheimdienste treffen sich nicht nur auf operativer, sondern auch auf strategischer Ebene: Die einen nützen die Nationalstaaten als Basis für Steuersparmodelle, die anderen, um über Datentausch mit ihren Partnern an Informationen über die eigene Bevölkerung zu kommen, die ihnen bisher verweigert waren. Wer glaubt, nichts zu verbergen zu haben und schweigt, ist doppelt nützlich: Als stiller Unterstützer und als Teil des Datenrauschens vermeintlicher Normalität, vor dessen Hintergrund sich die Abweichler umso deutlicher abzeichnen sollen.
Der Ekel des Users beim Waten durch die Datensilage ist Symptom des tiefgreifenden Wandels der materiellen Grundlagen unserer Gesellschaft. Führte die industrielle Revolution zunächst zu Arbeitslosigkeit und Hunger, also in eine Krise des Körpers, so provoziert die Informatisierung der Gesellschaft entsprechende Krisen des Geistes, die zuerst das politische Denken trüben.
Dieselben öffentlichen Figuren, zu deren Profil es vor nicht allzulanger Zeit gehörte, die permanente Bespitzelung - völlig zurecht - als typisches Merkmal totalitärer Ostblockregime zu brandmarken, verteidigen sie heute als neue Normalität im demokratisch verfassten Rechtsstaat, ja als Garant staatlicher Souveränität, gewissermaßen als Kompensation für den Bedeutungsverlust physischer Grenzen - eine Umwertung der Werte, die ein immerhin von George W. Bush persönlich ernannter US-Bundesrichter anlässlich eines Urteils über die NSA-Version der Vorratsdatenspeicherung als "beinah Orwellianisch" bezeichnet hat.
ORF Radio FM4/Julia Gindl
"Die Leute wachsen heute in dem Bewusstsein auf, dass alles, was sie ins Netz stellen, irgendwann gegen sie verwendet werden könnte", sagt mir ein Freund, "Eine Pädagogin hat neulich Kindern empfohlen, im Internet nichts zu tun, von dem nicht auch ihre Eltern erfahren dürften. Welche Persönlichkeiten entwickeln sich unter diesen Umständen?"
Haben wir dieses Bewusstsein wirklich? Schon löst sich der Ekel in immer wiederkehrenden Debatten auf, in der Arbeit und im Strom des alltäglichen Blödsinns. Vielleicht stimmt Orwells alter Big-Brother-Spruch wirklich und Unwissenheit ist tatsächlich Stärke, alle machen einfach weiter, interpretieren die NSA und die anderen Überwachungsinstanzen als Störungen und routen um sie herum, kriechen in neue Zwischenräume, wie es die Beherrschten aller Zeiten schon immer getan haben.
Mag sein, dass der wahre Schrecken der NSA-Affäre darin liegt, dass auch das volle Bewusstsein von der Emergenz eines beinahe umfassenden konnektionistischen Kontrollsystems im Grunde überhaupt keinen Unterschied im Alltag macht. Weil es schon immer so gewesen ist.
Es wird Zeit, diesen Unterschied zu suchen.