Erstellt am: 17. 12. 2013 - 23:38 Uhr
Getting over 2013
Rewind 2013
Der FM4 Jahresrückblick
Die Idee einer These zum Jahr hab ich ja schon länger aufgegeben. Sie scheint völlig sinnlos in der nivellierten ewigen Gegenwart/Vergangenheit einer scheinbar völlig vom (ohnehin nur in eine garstige Dystopie weisenden) Zeitvektor losgelösten Pop-Wahrnehmung. Diese könnte zugegebenermaßen genauso gut auch bloß die meine sein. Das wäre andererseits aber auch schon gut genug, schließlich müssen wir, die wir uns einst vom Pop die Welt erklären ließen, auch was haben von seiner Sinnentleerung, und sei es nur die narzisstische Selbstermächtigung des Listenschreibers.
FM4 Heartbeat
Jeden Montag von 22 Uhr bis Mitternacht und im Anschluss für 7 Tage on Demand
Was außerdem unterm Strich bleibt, ist - entgegen dem ewigen Gejammer über die fehlenden Fahnenträger_innen und renitenten Richtungsweiser_innen - ein Überfluss an großartigen Songs, die unter Nutzung preiswerter Software von den musizierenden Massen auf den verkümmerten Markt geworfen wurden. Technologische Demokratisierung kann schon auch was.
Das ist also der erste Teil meines Jahresrückblicks auf meine heurigen Heartbeat-Sendungen, bis Anfang nächster Woche hier nachzuhören.
Stolen Recordings
Serafina Steer: Skinny Dippin.
Er (oder sie) brauche sich für seinen/ihren Körper nicht zu genieren, singt Serafina Steer, die zwar Harfe spielt, aber doch so ganz was anderes ist als eine englische Joanna Newsom.
Yo La Tengo: Cornelia and Jane
Einer von so vielen Songs aus dem von John McEntire meisterlich produzierten Album "Fade", die hier vorkommen hätten können. Wenn es einmal Yo La Tengo nicht mehr gibt, werden wir schön schauen alle miteinander.
Villagers: In A Newfound Land You Are Free
Ein Ausschnitt aus dem Interview mit Conor O'Brien alias Villagers, der uns erklärt, warum er im Mittelklasse-Irland des keltischen Tiger-Booms in einer gefaketen Gesellschaft aufgewachsen ist. Mit einem Lied dazu, aus seinem Album "Awayland", das selbst die hartherzigsten Singer-Songwriter-Hasser_innen weich kriegen sollte.
Unknown Mortal Orchestra: Swim and Sleep (Like a Shark)
Eine jener Bands, von der ich gar nicht wissen will, wo sie herkommen, nicht nur aus journalistischer Faulheit, sondern weil ihr Sound so glaubwürdig eine fiktive analoge Parallelwelt herstellt, die wir lieber nicht zerstören wollen (weshalb ich jetzt auch diesen Link vorsorglich nicht anklicken würde). Wo Eskapismus ins Unmögliche flieht, soll man sich das nicht mit dem Stieren hinter die Kulissen verderben.
Alex Highton: Stupid
Wir wissen, wo Alex Highton herkommt, aus Liverpool, das hört man an seinem Sing-Sang, und jetzt wohnt er in Woodditton in Cambridgeshire. Das sagt er schließlich schon im Titel seines Albums "Woodditton Wives Club", das ja eigentlich schon letztes Jahr rausgekommen ist, aber mein Interview mit ihm war erst heuer, also bitte. In dem Gesprächsausschnitt in meiner Sendung erklärt Alex, wo "Stupid" herkommt, der bittere Monolog einer Mutter, gerichtet an ihr Kind: "Dein Leben ist mein einziges Bedauern."
Naked Lunch: Over It
Nicht weniger tragisch ist dieser Song aus "All Is Fever", dem heurigen Naked Lunch-Album, der geduldig ausführt, dass "You'll get over over it", also das "hinweg sein" über eine ganze Litanei an hier geschilderten persönlichen Tragödien, damit enden wird, dass alle anderen weg sind und der Protagonist des Songs alleine schläft. Gegebenenfalls für immer. Trostlos aber wunderschön.
Young Galaxy: Pretty Boy
Ja, Young Galaxy klingen so, als sänge Belinda Carlisle bei Bronski Beat, nicht einmal die Stakkato-Streicher haben sie weggelassen, in ihrem ungenierten Eighties-Fetischismus, aber es ist ein brillanter Popsong und einem solchen ist bekanntlich alles erlaubt.
Matthew E. White: Hot Toddie
Jener Song aus Matthew E. White's "Big Inner", der menschenwarme Nostalgie für gute Zeiten mittels Streichquartett, Schütteln mit der Reis-gefüllten Kokosnuss und der unschuldigen Beschwörung heißer Schokolade erweckt und das alles erst im letzten Drittel mit Schlagzeug und Blues-Septimen am Klavier ein wenig kompromittiert.
Nick Cave & The Bad Seeds: Wide Lovely Eyes
Kleiner Ausschnitt aus meinem Interview aus Berlin im Februar. Die Stelle, wo Cave selber in Frage stellt, ob noch irgendjemand sein Album braucht, wo doch niemand mehr die nötige Dreiviertelstunde Ungestörtheit findet, es sich in einem Stück anzuhören. Und wo er sich selbst unterbricht, um festzustellen, dass die Leute dann vielleicht doch noch das Bedürfnis nach was Substantiellem spüren könnten.
Womit wohlgemerkt nicht die Vergangenheit gemeint sei.
Dieser Gedanke also, gefolgt vom, gerade weil er so gar nichts beweisen will, aus der Distanz betrachtet vielleicht doch schönsten Song aus "Push The Sky Away".
Sub Pop
Low: Paper Cup
Aus dem bei Jeff Tweedy aufgenommenen Album "The Invisible Way", Low's unglaubliche Saga eines Pappbechers. Es wird klar, dass da jemand eine Harnprobe abgibt, dass ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Und irgendwann in der Zukunft wird ein Außerirdischer den Becher finden und als Kelch eines Königs identifizieren.
John Grant: Ernest Borgnine
Desorientiertes Saxophongewinsel zwischen klinischen Synthklängen, aber sobald man einmal die von John Grant in dem auf deutsch geführten Interview, das uns die Plattenfirma zur Verfügung gestellt hat, furchtlos preisgegebene, schmerzhaft persönliche Hintergrundgeschichte gehört hat, bekommt dieser Song aus dem Album "Pale Green Ghosts" eine völlig andere, schlüssig konkrete, zutiefst berührende Bedeutung.
David Bowie: Valentine's Day
Ein Dreivierteljahr nach dem Trubel um "The Next Day" hört man nur noch den Song, nicht das Drumherum. Und die Geschichte von dem Mann mit dem kleinen Gesicht und den verhutzelten Händen kommt zum Vorschein.
Harper Simon: Bonnie Brae
Eingeleitet von einem Clip aus einem der angenehmsten Interviews des letzten Jahres. Kein einziges Mal hab ich Harper's Vater erwähnt, vielleicht ist es deshalb so gut gelaufen. Er erklärte dabei - passend zu Bowie vorhin -, wie die zehn Dollar, die er einst für die "Ziggy Stardust"-LP ausgab, Ziggy zu einem Teil seiner Identität machten. Wie die Platten, die er kaufte, seine Person definierten.
Ich verstehe genau, was er meint und stimme vollinhaltlich zu, auch wenn das nüchtern aus der Distanz betrachtet nach einer historischen Schrulle klingt. Da haben die Jungen, die über unseresgleichen den Kopf schütteln, schon recht.
Toller Song übrigens, gutes Album.
Kurt Vile: Girl Called Alex
Die Stoner-Slacker-Schläfrigkeit von "Wakin' on a Pretty Daze" sollte mich eigentlich ermüden, aber Kurt kommt sogar mit Zeilen wie "I wanna live all the time in my fantasy infinity" davon. Weil er sich und uns in der scheinbar amorphen Welt seiner Musik dann doch immer wieder mit frischen Ideen überrascht: Eine hereindriftende E-Gitarre da, ein Tempowechsel dort. "I wanna walk out in the night without it being running away from a bad day in my brain."
Siluh Records
Sex Jams: September
Ich weiß nicht einmal mehr, ob es Ende letzten oder Anfang dieses Jahres war, dass Sex Jams bzw. Mile Me Deaf (weitgehende Personalunion) zum zweiten Mal in London vorbeikamen und ich ihnen Unterschlupf gab. Ich glaube, sie haben zu siebt in einem kleinen Zimmer geschlafen, aber vielleicht hab ich das nur geträumt. Sie drückten mir ihr feines Album "Trouble, Honey" in die Hand, das weiß ich ganz sicher.
Parquet Courts: Stoned and Starving
Siehe Kurt Vile, hier konkret Geschichten davon, wie einen der Hunger packt, wenn das THC einfährt, aber vorgebracht mit Jonathan Richmanscher Fähigkeit zur Glamorisierung des Gewöhnlichsten. Groß.
Ralfe Band: Barricades
Wir hören ein Zitat aus meinem Treffen mit Oly Ralfe von der Ralfe Band, in dem er mir erklärt, dass das Englische in der Musik ihn noch nie interessiert hat. Niemand ist sympathischer als mit xenophilem Antipatriotismus ausgestattete Engländer. "Son Be Wise" ist eines der großen unterschätzten Alben des Jahres.
British Sea Power: Radio Goddard
Obiges könnte man auch von "Machineries of Joy" behaupten, auf dem BSP diesen seelenrettenden Song ("Stop crying, we want you here / Stop trying") irgendwo im letzten Drittel versteckt haben. Wir haben ihn trotzdem gefunden und werden ihn nicht vergessen.
Laut ihrer Website spielen British Sea Power heutzutage als Vorband für die Editors. Was ist das für eine Welt eigentlich?
Edwyn Collins: Dilemna
Der Song, vor dem ich gar nichts wusste von jenem in Großbritannien verbreiteten Rechtschreibungsdilemma ("mn"). Dazu vernehmen wir einen Ausschnitt aus dem Gespräch, das ich mit Edwyn in seinem Wohnzimmer führte, über seinen kommenden Umzug in den schottischen Familiensitz oben in Helmsdale, wo der Armsessel immer noch dem verstorbenen Großvater gehört, bei dem einst der 25-jährige Edwyn, desillusioniert vom Popgeschäft, wieder zu sich selber fand.
East India Youth: Looking for Someone
Der Alibi-Hipster-Track in dieser Playlist. Im Ernst, wenn alle, die sich verschwommen fotografieren lassen, so gut im Produzieren von wahrhaft herzzerreißendem Weißen-Mittelklasse-Gospel wären wie William Doyle alias East India Youth, dann bräuchten wir uns nicht so viel berechtigte Sorgen um die totale Gentrifizierung des Pop im Großbritannien David Camerons machen.
The Pastels: Check My Heart
Noch ein kurzes Konversationsdokument: Stephen Pastel in Soho im Frühjahr 2013 beim Sinnieren darüber, warum wir alle von Iggy Pop lieber die Melancholie seiner Lebenserfahrung als eine Nachempfindung seines 25-jährigen Ichs hören würden. Kein anderer als Stephen Pastel würde diese These mit einem Vergleich mit Agnes Varda illustrieren. "Slow Summit" war immerhin so ein gutes Album, dass er sich das leisten kann.
Fettkakao
Just Friends and Lovers: Tips and Trips
Eine der spannendsten Bands auf dem nie unspannenden Fettkakao-Label. Wenn ich richtig verstanden habe, geht die erste Strophe so: "In the town where the freaks are sent away / In the town where the rich enjoy the trips / In the town where the broke are told to leave / At least the waitresses get their tips" Und dann in der zweiten Strophe: "Last month my favourite spot closed down." Ich glaub, das klingt nach Wien, in seiner ganzen satten Selbstgefälligkeit, die einem alle Gedanken ans Zurückkommen so schnell wieder vertreibt. Toller Song.
Colleen: Push The Boat Onto The Sand
Ich verehre das Second Language-Label, aber gelegentlich wünschte man sich, es wäre weniger hochwertig und Boutique und mehr schnelle Massenware, dann könnten vielleicht mehr Leute die großartige Musik der Cécile Schott alias Colleen hören. Sie würden sie mögen, sie wissen es bloß nicht, weil sie keine Second Language-Abonnent_innen oder sonstige cognoscenti sind.
Vampire Weekend: Hannah Hunt
Von Vampire Weekend könnte man sowas ja gar nicht behaupten, aber deshalb sind wir uns für sie hier noch lange nicht zu schade. Im Ernst: Wer hätte denen sowas Subtiles zugetraut?
Tapete Records
Lloyd Cole: Diminished Ex
Der ehemalige Gott des etwas gescheiteren Gitarrenpop erzählt uns unter vier Augen, dass er heute noch wirklich groß wäre, wenn er bloß 1994 gestorben wäre. Ja, aber dann hätten wir nie sein heuriges Album "Standards" gehört.
Fakt: Eine Zeitschrift, die hier zur Schonung ihres guten Rufs nicht genannt werden soll, lehnte mein Interview mit dem Argument "nicht schon wieder" ab. Offenbar hat die Welt schon zu viel von Lloyd Cole gehört. Das war mir nicht bewusst, aber ich lebe ja auch auf einem anderen Planeten.
Neon Neon: Hoops with Fidel
Aus Gruff Rhys und Co alias Neon Neon's Konzeptalbum "Praxis Makes Perfect" über Giangiacomo Feltrinelli. Wann klang Revoluzzer-Chic je eleganter?
Mile Me Deaf: Sometimes A Man Needs To Be A Human
Aus Mile Me Deaf's "Brando"-EP, tatsächlich, so viel ich weiß, in diesem Fall einfach Wolfgang Möstl solo. Einer seiner besten Songs, nebenbei hingeworfen. Da kommt noch was nach, das steht fest.
Auch für die Sendung. Wir hören uns wieder in zwei Wochen am 30.12.
FM4 Heartbeat
Teil 1 des Jahresrückblicks für 7 Tage on Demand.