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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

15. 12. 2013 - 15:22

Schwielen auf der Seele

Die Intensität einer Novelle, die der Beginn eines Romans werden könnte: "Graz" von Bart Moeyaert ist gute Unterhaltung.

Ein Apothekersohn macht sich auf einen winterlichen Nachtspaziergang durch Graz auf. Nachhaltig erschüttert wird er in sein bürgerliches Zuhause zurückkehren und als LeserIn hat man einen tollen Autor entdeckt. Denn "Graz" ist die erste Novelle des belgischen Schriftstellers Bart Moeyaert, der bisher speziell für eine junge Leserschaft geschrieben hat. Wie kommt ein Belgier dazu, seine Premiere im Bereich der Erwachsenenliteratur ausgerechnet in der steirischen Landeshauptstadt anzusiedeln?

Bart Moeyaert

Diego Franssens

Der Grund dafür ist das in Graz beheimatete und ohne Übertreibung fantastische Kinder- und Jugendliteraturfestival „Bookolino“, das wunderbare Illustrationen ausstellt und tatsächliche Jahr für Jahr Meister des Erzählens einlädt (Empfehlung! Empfehlung! Auch für Erwachsene ohne eigene Kinder oder jüngere Geschwister). Bart Moeyaert war bereits mehrfach zu Gast, denn auch im deutschsprachigen Raum sind seine Kinder- und Jugendbücher wie etwa „Mut für drei – Geschichten fürs erste Lesen“ ausgezeichnet.

Der Persönlichkeit auf den Fersen

Gerüche, Gefühle und Geheimnisse muss Bart Moeyaert bei seinen Aufenthalten in Graz regelrecht aufgesogen haben. Über Lieblichkeiten hat er gekonnt hinweggesehen, er tappt in keine touristische Falle. Und das, obwohl er die Weikhard-Uhr am Hauptplatz als Modell der Dreißiger Jahre erkennt, mühsam gegen Schneewind den Schloßberg hoch stapft und von den älteren Damen im Café Fotter stets Tee statt Kaffee serviert bekommt. „Graz“ ist ein doppeltes Porträt, das einer Kleinstadt und jenes eines ihrer Bewohner: des – fiktiven – Apothekersohnes Hermann Eichler. Dieser ist ob seiner bürgerlichen Passivität in melancholischer Verfassung. Mit gerade mal 28 Jahren scheint sein gesamtes Leben abgeklärt bis zum Ende. Der Familienbetrieb liegt eine Treppe unter der Wohnung. Kein Weg führt daran vorbei - man ahnt es. „Mein Vater sah zu, wie ich aß, und bezeichnete den Teller als festlich. 'Ja', sagte ich. Ich wagte es nicht, noch einen ganzen Satz zu beginnen. Dass ich fast erstickte, entging ihm.“

Das Cover zur Novelle "Graz" zeigt einen kahlrasierten Mann im Unterhemd, mit dem Rücken zum Betrachter gewandt

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“Graz“ von Bart Moeyaert, aus dem Niederländischen übersetzt von Doris Mayer, ist kürzlich im Luftschacht Verlag erschienen.

Schlimmes muss passieren, damit Körper in Bewegung geraten. Zu Beginn der Novelle knallt ein junger Körper auf kalten Asphalt, „und die Beine lagen wie in einem Zeichentrickfilm, bereit zum Weglaufen. Der Hals hatte einen Knick“. Stunden später wird der Ich-Erzähler Hermann Eichler die Geldbörse des Unfallopfers finden und an sich nehmen. Obsessiv werden die Gedanken Eichlers, der seine eigenen Neurosen ausgiebig studiert hat.

Die Sprache ist von einer Genauigkeit, die jede Situation zu einem Ereignis macht. Voll der Sinne und Direktheit. Von den Kundenberatungen in der Apotheke schleichen sich Gesten in private Kontakte, die spärlich ausfallen. "Es war genau das gleiche Lächeln, das ich einsetzte, wenn der nächste Kunde dran war, aber derjenige vor dem Pult nicht losließ. Das schockierte mich ein bisschen, doch noch mehr schockierte mich die Frau." Des Nächtens plagt diesen Mann eine Rastlosigkeit, die ihn mit dem Pyjama unter der Anzugshose auf die Straße zieht. „Die Scham legte sich wie zwei warme, klebrige Hände in meinen Nacken.“ Mehr und mehr will man diesem erst unscheinbaren Mann folgen, ahnt seine verborgen gehaltene Vorfreude auf ein Leben, das nicht die Vorfahren für ihn geführt haben.

Die Warnung steht schwarz auf weißem Foto auf dem Cover: Novelle. Es ist der einzige Vorwurf, den man Bart Moeyaert machen könnte: dass er bloß eine Novelle geschrieben hat. Sein erstes Buch, mit dem sich der belgische Autor explizit an eine erwachsene Leserschaft richtet, zählt gerade 107 Seiten.

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Nun, da man Moeyaert schon mal begegnet ist, will man ihn ergründen. Bis der 49-Jährige einen ersten Roman für ein erwachsenes Publikum geschrieben haben wird, könnte man zu einem seiner Jugendbücher greifen. "Es ist die Liebe, die wir nicht begreifen" aus 2001 oder "Hinter der Milchstraße", das auch diesen Herbst auf Deutsch erschienen ist.