Erstellt am: 9. 12. 2013 - 18:37 Uhr
Krankheit als Weg?
Am 26. August 2013 beendete der deutsche Autor Wolfgang Herrndorf nach schwerer Krankheit, einem bösartigen Gehirntumor, mit einem Schuss in den Kopf sein Leben. Nachdem der 1965 in Hamburg geborene Herrndorf 2010 erfahren hatte, dass er nicht mehr lange leben würde, beschloss er, die ihm noch bleibende Zeit zuvorderst mit Arbeit zu verbringen: In vergleichsweise kürzester Zeit schrieb Herrndorf die Romane "Tschick" und "Sand". Einer ein Jugendroman, der andere eine Art Kriminalroman in der Wüste.
Nach Herrndorfs ersten beiden, schon auch mehr als vielversprechenden Büchern – dem Roman "In Plüschgewittern" und dem wunderhübsch bizarren Erzählband "Diesseits des Van-Allen-Gürtels" – gelangte Herrndorf mit "Tschick" und "Sand" hinsichtlich Sprachwitz, Figurenführung, Dramaturgie und Flow zu neuer Perfektion. Die Bücher verkauften sich bestens und wurden zu Recht mit Preisen ausgezeichnet.
Gleichzeitig dokumentierte Herrndorf sein Leben und die Krankheit tagebuchartig in seinem Blog "Arbeit und Struktur". Gerade ist "Arbeit und Struktur" im Rowohlt Verlag als Buch erschienen. Der digitale Transfer ins Papierformat ist mehr als erfreulich, würdig und recht - wir haben es bei Herrndorfs Blog eben nicht bloß mit schlampigem und lauem Herumgemeine im Netz zu tun, sondern mit Literatur.
Muss für die Ärzte Stimmungstagebuch führen, jeweils um 8, 13, 19 Uhr Check: Bin ich sehr fröhlich, fröhlich, mittel, bedrückt, sehr bedrückt? Durchgehend "sehr fröhlich" und ein durchgestrichenes und durch "sehr fröhlich" ersetztes "fröhlich" bisher. Da die Kategorie "hocheuphorisch" fehlt, die ich während jener Tage hätte ankreuzen müssen, vermute ich, dass sich hinter dem Begriff "sehr fröhlich" eine Falle verbirgt. Wenn ich durchgehend sehr fröhlich ankreuze, lassen sie mich nie wieder raus. Deshalb das versuchsweise Kreuz bei "fröhlich". Dann aber entschieden, ehrlich zu antworten. Die Ärzte sind ja nicht blöd.
Mathias Mainholz
"Arbeit und Struktur" beginnt mit Wolfang Herrndorfs Zeit auf der Neuropsychatrie. Ermüdende Tests, ermüdende Abläufe, ermüdend Tabletten testen, grundsätzliche Ermüdung. Schon früh scheint Herrndorf eine Sinnlosigkeit der Untersuchungen auszumachen, ist nur glücklich, wenn er arbeiten kann. Er erzählt detailliert davon, wie er arbeitet, wie er schreibt und was ihn wurmt. Selbstsicherheit und leise Gefühle von Triumph wechseln sich unvermittelt mit den dunkelsten Selbstzweifeln ab.
Erinnere mich wie ich im März in den ersten warmen Nächten am offenen Fenster saß, arbeitete und dachte, es ist eine Sache auf Leben und Tod. Und das war es vielleicht auch. Aber es hat sich im Roman nicht abgebildet. Stilistisch fragwürdige Pennälerprosa mit Allerweltseinfällen, als Ganzes strukturlos. Auch die letzte Szene - wen interessiert's?"
"Arbeit und Struktur" pendelt zwischen Krankenhausaufhalten, Arbeiten, noch einmal Arbeiten und öd gewordenem Alltag. Ausflüge, Fußballspielen, Sozial-Kontakte - all das nimmt Herrndorf zwar nicht unbedingt ablehnend, aber meist bestenfalls bloß noch gleichgültig hin. Die Stimmung im Buch ist also klarerweise eine finstere - nie aber fühlt man sich hier von Selbstmitleid erschlagen, sondern im Gegenteil im besten Sinne erschüttert.
Arbeit und Struktur
Genauso lebt "Arbeit und Struktur" auch von einem spitz zugeschliffenen Witz, der mit dem Zielobjekt wohl eher nicht so angenehmen Urteilen und Wertungen Richtung Welt im Allgemeinen und Literatur im Speziellen nicht geizt. Dostojewski und Salinger findet Herrndorf super, den Bachmannpreisträger Uwe Tellkamp weniger – womit er auch nicht hinter dem Berg hält. Schönes gibt es auch über einen der prominentesten und erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart zu erfahren:
Wenn es ein Gegenteil von Aura gibt, dann schwebt es strahlend um Kehlmann herum.
Man darf "Arbeit und Struktur" jetzt ausnahmsweise auch einmal berechtigt ein Vermächtnis nennen. Auch wenn so eine Bezeichnung Herrndorf selbst wohl zu staatstragend und bedeutsam gewesen wäre. Ein großer Text, eine aufrührende und erhellende Erinnerung, voller Schmerz, voller Literaturkritik, scharfer Analyse, Humor, Verzweiflung, manchmal Hoffnung, und Selbstaufgabe.
Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick. Schon seit Tagen keine Beunruhigung mehr. Sobald ein Gedanke kommt, höre ich das geschmeidig klickende und einrastende Geräusch der Abzugsgruppe, und Ruhe ist. Die Ähnlichkeit zu meinem Verrücktsein ist unverkennbar. Nur dass ich jetzt nicht verrückt bin, meiner Meinung nach.