Erstellt am: 4. 12. 2013 - 11:12 Uhr
Tatverdacht Hautfarbe
Shame and the city
Stellt euch vor, ihr geht auf der Straße und müsst jederzeit damit rechnen, von der Polizei angehalten und durchsucht zu werden, ohne Anlass, jede Minute des Tages, jeden Tag des Jahres und das in eurer Heimatstadt. Was würdet ihr denken, was fühlen?
Alarmy
„An meinem 18. Geburtstag war ich mit einem Freund und meinem Cousin auf der 69th Street unterwegs. Wie aus dem Nichts kamen drei Einsatzfahrzeuge des NYPD auf uns zugeschossen. Die Cops sprangen aus den Autos, brüllten uns an und zogen ihre Pistolen. Wir mussten uns flach auf den Boden legen und wurden durchsucht. Wir haben noch Stunden später gezittert.“
Nicholas Peart ist 25. Der Student kommt aus Harlem. Wie oft er das entwürdigende Stop-And-Frisk-Ritual über sich ergehen lassen musste, weiß er gar nicht mehr so genau. „Wahrscheinlich an die 15 Mal. Meine Mutter hat mich darauf vorbereitet. Schon als Kind sagte sie mir, dass es eines Tages passieren wird. Sie erklärte, wie ich mich verhalten soll, dass ich immer einen Ausweis dabei haben muss und mich ja nicht gegen die Durchsuchung wehren darf.“
Über 500.000 Mal wurde Stop And Frisk in New York allein im vergangenen Jahr praktiziert. Das sind 1370 Anhaltungen pro Tag. Neun von 10 Durchsuchten waren Afroamerikaner oder Latinos. Nur bei 10% der Fälle ist es zu einer weiteren Amtshandlung gekommen. Die Betroffenen sind meist jung, männlich und "non- caucasian".
Christian Lehner
Ich frage Nicholas, mit welcher Begründung sie ihn und seine Freunde durchsucht hätten. „Because you fit the description“, war die Antwort, die ihm die Cops gaben. „Wir trugen Hoodies und Baseball-Mützen ... und wir sind schwarz. Das reicht als Verdachtsmoment.“
„Stop And Frisk ist eine Präventivmaßnahme zur Eindämmung der Kriminalität“, erklärt Chauniqua Young vom Center For Constitutionial Rights (CCR) in Downtown Manhattan. „Das Problem sind nicht die Anhaltungen an sich, sondern die Auswahl der Verdächtigen und die Durchführung. Das NYPD betreibt „racial profiling“ und geht bei den Durchsuchungen nicht gerade zimperlich vor. Der Schaden in den Communities ist enorm. Immerhin geht es um Kids, die zum Großteil völlig unschuldig sind, aber wie Kriminelle behandelt werden. Das prägt.“
"Are you really for peace and equality
Or when my car is hooked up, you know you wanna follow me
Your laws are minimal
Cause you won't even think about lookin' at the real criminal
This has got to cease
Cause we be getting hyped to the sound of da police"
KRS One - Sound Of Da Police (1993)
Das CCR hat 2009 gegen die Stop-And-Frisk-Praxis des NYPD Beschwerde eingebracht, die Stadt New York geklagt und im August dieses Jahres von einem Bundesgericht recht bekommen. Das NYPD verstoße eindeutig gegen die US-Verfassung, befand Richterin Shira Scheindlin und ordnete eine grundlegende Reform der Durchführung an.
Stop And Frisk - a history
Stop and Frisk wird seit den Sechzigerjahren in mehreren US-Großstädten praktiziert. Erscheint jemand verdächtig, haben die Cops das Recht, diese Person anzuhalten und zu befragen. Wirkt der Verdächtige gefährlich, darf durch äußerliches Abtasten nach Waffen oder verbotenen Substanzen gesucht werden. Welche Kriterien jemanden suspekt erscheinen lassen, liegt letztendlich im Ermessen der „officers on the street“. Es gibt zwar allgemeine Richtlinien, aber Ex-NYPD-Cops wie etwa Adrian Schoolcraft berichten von Anweisungen zur Durchsuchung schwarzer Jugendlicher und von Quotenvorgaben durch Vorgesetzte.
dninfo
Die Praxis hat tiefgehende Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen. Das Vertrauen in die Polizei, in Autoritäten allgemein und die Gesellschaft ist nachhaltig erschüttert. „Stop And Frisk ist soziale Konditionierung“, sagt Nicholas Peart. „Man gewöhnt sich daran, obwohl man sich natürlich nie daran gewöhnt“. Nicholas hat gelernt, der Gefahr aus dem Weg zu gehen. Er bewegt sich anders durch die Stadt: „Ich weiß genau, was ein Cop denkt, wenn er mich sieht. Ich weiß genau, dass ich eher in der Nacht als bei Tag angehalten werde. Ich weiß genau, dass ich eher in Harlem als in Midtown durchsucht werde.“
Oberstopper Bloomberg
Obwohl jahrzehntelange Praxis, ist Stop And Frisk erst unter Bürgermeister Bloomberg und seinem Polizeichef Ray Kelly zum öffentlichen Aufreger geworden. Die Zahl der Durchsuchungen ist während Bloombergs Amtszeit sprunghaft angestiegen. Der scheidende Bürgermeister rühmt sich mit einer historisch niedrigen Verbrechensrate und sieht in Stop And Frisk eine der effektivsten Präventivmaßnahmen in der Verbrechensbekämpfung. Experten ziehen jedoch den Nutzen der umstrittenen Praxis in Zweifel. In Problembezirken wie East New York oder Brownsville, wo der Großteil der Druchsuchungen stattfindet, ist die Kriminaliätsrate annährend gleich geblieben.
Christian Lehner
„Ich denke, die Kriminalität ist nach wie vor ein großes Problem, aber in meiner Hood traut sich fast niemand mehr die Cops rufen“, so Nicholas Peart zu Bloombergs Erfolgszahlen. Dennoch sind immer weniger Stop-And-Frisk-Opfer bereit, die Polizeiübergriffe als eine weitere Facette des institutionellen Rassismus in den USA hinzunehmen. Bürgerrechtsgruppen ermuntern Zeugen, Stop And Frisks mittels Mobiltelefon zu dokumentieren. Dafür gibt es sogar eine eigene App. Das öffentliche Echo ist enorm. In New York gibt es anscheinend kaum eine afroamerikanische Familie, die nicht betroffen ist.
center of constitutional rights
„Vor einiger Zeit war ich auf dem Weg zum Deli an der Ecke“, erzählt Nicholas über einen weiteren Vorfall. „Da nahmen mich die Cops hoch. Sie durchsuchten nicht nur die Taschen sondern auch unsere Wohnung. Seit dem Tod meiner Mutter bin ich der alleinige Familienvorstand. Ich habe mich ausgewiesen, doch das half nichts. Sie nahmen mir das Telefon ab, legten mir Handschellen an und steckten mich in das Polizeiauto. Meine kleine Schwester stand heulend im Flur und hatte keine Ahnung, was da gerade abgeht. Als sie mich wieder freigelassen haben, rechtfertigte sich ein Polizeibeamter. Sie hätten gedacht, ich besitze Marihuana.“
New mayor, new hope?
Nicholas Peart hat beschlossen, als einer von vier Zeugen im Prozess gegen das NYPD auszusagen. Die Stadt New York hat zwar gegen den Gerichtsentscheid Berufung eingelegt, dennoch dürfte die bisherige Praxis des NYPD bald der Vergangenheit angehören. Der neue Bürgermeister Bill de Blasio hat die Reform von Stop And Frisk zu einem zentralen Thema seines Wahlkampfes gemacht. Geplant ist ein dauerhaftes Monitoring der Polizei, Schulungen, disziplinäre Maßnahmen bei Übertretung und eine engere Zusammenarbeit mit den Communities.
Website des Center For Constitutional Rights.
Christian Lehner
Ende November sind neue Zahlen zu Stop And Frisk veröffentlich worden. Die Anhaltungen und Durchsuchungen sind im vergangenen Sommer drastisch zurückgegangen. Pikantes Detail: auch die Verbrechensrate war im Erhebungszeitraum rückläufig. „Die jüngsten Daten aus dem Büro der Staatsanwaltschaft belegen überdies, dass selbst bei den wenigen Verhaftung kaum je Anzeige erstattet wurde“, sagt Chauniqua Young vom Center For Constitutional Rights. „Das alles zeigt, wie ineffizient und falsch die Praxis des NYPD ist“. Betroffene wie Nicholas Peart sind jedenfalls weiterhin skeptisch - trotz Urteil, ermutigender Statistik und neuem Bügermeister. „Natürlich freue ich mich, aber ich fürchte, das NYPD hat bloß auf den öffentlichen Druck reagiert und sich eine Zeit lang einfach etwas zurückgehalten, um die Medien ruhig zu stellen. Bei Gericht wird die Reform ja weiterhin bekämpft.“ Woher der junge Mann wohl seine Zweifel hat?